Feuersee
klirrend, berstend begrub der Ast das Kind
unter sich.
Er hörte einen Aufschrei, der plötzlich
verstummte, dann herrschte tiefe Stille.
Alfred stürmte weiter. Der abgebrochene Ast war
riesig. Der Körper des Jungen war nicht zu sehen, er
mußte ganz unter den
Trümmern begraben liegen. Alfred schaute in hoffnungsloser
Verzweiflung auf die
zerschellten Zweige, die scharfen, glitzernden Splitter.
Laß es. Misch dich nicht ein. Du weißt,
was es
mit diesem Jungen auf sich hat! Du kennst das Böse, das ihn
gezeugt hat! Soll
es mit ihm sterben.
Aber er ist ein Kind! Er wurde nicht gefragt!
Soll er bezahlen für die Sünden des Vaters? Sollte er
nicht die Möglichkeit
haben, zu sehen, zu begreifen, sich ein eigenes Urteil zu bilden, das
Gute in
sich zu erlösen und vielleicht auch in anderen?
Alfred blickte über die Schulter. Hugh
mußte das
Splittern gehört haben. Der Assassine ließ sich
Zeit, vielleicht sprach er ein
Dankgebet. Aber lange konnte es nicht mehr dauern, bis er hinter der
Biegung
auftauchte.
Um den mächtigen Ast aus dem Weg zu räumen,
war
ein Trupp Männer nötig – oder ein Mann mit
starken magischen Kräften. Alfred
begann die Runen zu singen. Sie umhüllten den Ast, teilten ihn
in zwei Hälften,
hoben sie auf und legten sie zu den beiden Seiten des Pfades nieder.
Zwischen
kleineren Splittern und Scherben lag Gram.
Der Junge war nicht tot, doch er lag im Sterben.
Kristallene Speere hatten den schmächtigen Körper
durchbohrt, er war
blutüberströmt, dazu kamen vermutlich innere
Verletzungen, Knochenbrüche, die
man auf den ersten Blick nicht erkennen konnte.
Die Toten ins Leben zurückrufen. Die Welle
verlangte nach Ausgleich. Gib dem einen Leben, und ein anderer wird vor
seiner
Zeit sterben.
Das Kind war bewußtlos, er hatte keine
Schmerzen, während das Leben schnell und unaufhaltsam aus ihm
hinausströmte.
Wäre ich ein Arzt, würde ich alles
versuchen, es
am Leben zu erhalten. Ist das, was ich tun will, falsch?
Alfred hob einen kleinen Kristallsplitter auf.
Hände, so ungeschickt bei alltäglichen Verrichtungen,
bewegten sich
entschlossen und sicher. Der Sartan brachte sich am Arm eine kleine
Schnittwunde bei. Nachdem er neben dem Jungen niedergekniet war, malte
er mit
seinem eigenen Blut ein Sigel auf den verkrümmten
Körper. Dann sang er die
Runen und schrieb sie mit der anderen Hand in die Luft. Des Kindes
zerschmetterte Knochen fügten sich zusammen. Das zerrissene
Fleisch heilte. Die
hastigen, kurzen Atemzüge wurden tief und
regelmäßig. Die fahle Haut färbte
sich mit einem leichten Rot, dem Vorboten des wiederkehrenden Lebens.
Gram richtete sich auf und musterte Alfred mit
blauen Augen, deren Blicke schärfer waren als die
Kristallzweige der
Hargastbäume …
… Gram lebte. Und Hugh starb. Vor seiner
Zeit.
Alfred legte die Hände an die pochenden Schläfen.
Doch andere wurden gerettet!
Wie kann ich es wissen? Wie kann ich wissen, ob ich recht gehandelt
habe? Ich
weiß nur, daß es in meiner Macht stand, das Kind zu
retten, und ich tat es. Ich
konnte es nicht sterben lassen.
Endlich verstand Alfred, was er fürchtete. Wenn
er jenes Buch aufschlug, sah er auf den Seiten darin womöglich
die gleiche
Rune, die er auf Grams blutüberströmten
Körper gemalt hatte.
Ich habe den ersten Schritt auf einem dunklen
und gewundenen Pfad getan, und wer vermag zu sagen, ob nicht der zweite
und
dritte folgen? Bin ich stärker als meine Brüder hier?
»Nein«, gab Alfred sich selbst die Antwort
und
sank gebrochen auf einen Stuhl. »Nein, ich bin nicht
stärker als sie.«
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Kapitel 22
Nekropolis,
Abarrach
Haplo stützte sich auf einen Ellbogen und
spähte
zwischen den Gitterstäben hindurch auf den Leichnam des
Prinzen in der Zelle
gegenüber. Der Bewahrer hatte gute Arbeit geleistet. Keine
groteske
Leichenstarre, gelöste Züge – Edmund
hätte in friedlichem Schlummer liegen
können, wäre nicht das große blutige Loch
in seiner Brust gewesen. Der Bewahrer
hatte Anweisung gehabt, die Wunde zu lassen, sichtbarer Beweis
für den
gewaltsamen Tod des Prinzen und ein Anblick, der geeignet war, sein
Volk zu
einem Rachefeldzug aufzustacheln, wenn Edmund als Wiedergänger
zurückkehrte.
Der Patryn rollte sich auf den Rücken, legte
sich so bequem zurecht, wie es auf der steinernen Pritsche
möglich war, und
stellte Vermutungen an, wie lange es wohl dauerte, bis der Herrscher
kam, um
ihm
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