Feuersee
ehrlich gesagt zweifle, warum
ausgerechnet in
unserem Leben?«
»Weil«, antwortete ich ihm, »es
nach uns kein
Leben mehr geben wird.«
Die Antwort bestürzte ihn, wie es meine Absicht
war. Er starrte mich an, ohne etwas zu sagen. Nach einem letzten Blick
auf den
Koloß wandte er sich ab und beeilte sich, seinen Vater
einzuholen. Ich wußte,
daß meine Worte ihn beschäftigten, denn
während des Marsches war sein Gesicht
ernst und nachdenklich, seine Haltung gebeugt.
Edmund, Edmund! Wie sehr ich dich liebe und wie
sehr es mich schmerzt, dir diese schwere Last aufbürden zu
müssen. Wenn ich von
meiner Arbeit aufblicke, sehe ich, wie du zwischen den Menschen
umhergehst, um
dich zu vergewissern, daß sie es so gut haben wie unter
diesen Umständen nur
möglich. Ich weiß, daß du müde
bist, aber du willst dich nicht hinlegen, bis
alle anderen schlafen.
Du hast den ganzen Zyklus keinen Bissen
gegessen. Ich sah, wie du deine Ration der alten Frau gegeben hast, die
deine
Amme war. Du versuchtest, es unauffällig zu tun. Aber ich habe
es gesehen. Ich
weiß Bescheid. Und auch unser Volk lernt, Edmund. Am Ende
dieser Reise wird es
in der Lage sein, einen wahren Herrscher zu erkennen und ihn
wertzuschätzen.
Doch ich schweife ab, wo ich doch rasch zum
Schluß kommen sollte. Meine Finger sind steif vor
Kälte, und trotz aller
Bemühungen bildet sich eine dünne Eisschicht auf der
Tinte.
Der Koloß, von dem ich schrieb, bezeichnet die
Grenze von Kairn Telest. Wir marschierten weiter, bis wir gegen Ende
des Zyklus
endlich unser Ziel erreichten. Ich suchte und fand den Eingang zu dem
Tunnel,
der auf einer der alten Karten eingezeichnet war, eine
bogenförmige Öffnung in
der Kairnwand. Ich wußte, daß es der richtige
Tunnel war, denn schon nach
einigen Schritten stellte ich fest, daß er in leichter
Neigung abwärts führte.
»Dieser Tunnel«, erklärte ich und
wies auf die
undurchdringliche Finsternis im Innern, »wird uns in Regionen
tief unter
unserem Heimatkairn führen. Er führt uns tiefer in
das Herz von Abarrach, zu
den Ländern unten, in das Reich, das auf den Karten als Kairn
Nekros bezeichnet
wird, mit der Hauptstadt Nekropolis.«
Die Menschen standen schweigend, nicht einmal
die Säuglinge schrien. Wir alle wußten, mit dem
ersten Schritt ließen wir
unsere Heimat unwiderruflich hinter uns.
Ohne ein Wort setzte der König sich in Bewegung
und trat in den unterirdischen Gang – als erster. Edmund und
ich folgten ihm;
Edmund mußte sich bücken, um sich nicht den Kopf zu
stoßen. Nach dieser
symbolischen Geste des Königs übernahm ich die
Führung, denn nur ich habe die
Karten studiert.
Hinter uns strömten die Männer, Frauen,
Kinder
und Toten von Kairn Telest in den Tunnel. Ich sah viele am Eingang
zögern, sich
umdrehen, für einen letzten Augenblick, ein stummes Lebwohl.
Auch ich schaute
noch einmal zurück, doch wir sahen nichts als Dunkelheit. Was
noch an Licht
geblieben ist, nehmen wir mit uns.
Der letzte hatte den Tunnel betreten. Der
flackernde Schein der Fackeln zuckte über die schimmernden
Wände aus Obsidian.
Unsere Leiber warfen verzerrte, unstete Schatten auf den glatten Boden.
Wir
gingen weiter, Schritt für Schritt ins Ungewisse und in die
Tiefe.
Hinter uns senkte sich die ewige Nacht über Kairn
Telest.
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Kapitel 4
Pfade der Hoffnung,
Abarrach
Wer immer diesen Bericht liest (falls überhaupt
jemand von uns am Leben bleibt, um ihn zu lesen, woran ich sehr zu
zweifeln
beginne), wird er einen großen Zeitsprung bemerken. Als ich
das letzte Mal die
Feder zur Hand nahm, hatten wir gerade den ersten der auf den Karten
als ›Pfade
der Hoffnung‹ bezeichneten unterirdischen Gänge
betreten. Wie man sehen kann,
habe ich diesen Namen ausgelöscht und einen anderen
eingesetzt.
Pfade des Todes.
Wir haben zwanzig Zyklen in diesen Tunneln
zugebracht, erheblich länger, als ich geschätzt
hatte. Die Karte hat sich als
unzuverlässig erwiesen, wenn auch nicht in Bezug auf die
Route, die im
wesentlichen dieselbe ist, auf der unsere Vorfahren nach Kairn Telest
gelangten.
Damals waren die Tunnel neu erschaffen, mit
glatten Wänden, soliden Decken, ebenem Boden. Ich
wußte, daß sich im Lauf der
Jahrhunderte vieles verändert haben würde; Abarrach
wird von seismischen
Störungen heimgesucht, die den Boden erschüttern,
aber kaum mehr bewirken, als
daß die Teller im Schrank klirren und die
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