Feuersee
Kutsche brachte er nur ein abgehacktes Stottern
heraus. Der
Prinz verstand ihn trotzdem.
»Nur einer von Euch dreien hat sein Herz der
Wahrheit geöffnet. Jonathan hat die vollkommene Erkenntnis
noch nicht erlangt,
doch er ist nahe, viel näher als Ihr.«
»Ich will die Wahrheit wissen!« Alfred
stieß die
Worte mit zusammengebissenen Zähnen hervor, um seine Zunge
nicht in Gefahr zu
bringen.
»Wirklich?« fragte der Schemen, und Alfred
glaubte ein kaltes Lächeln auf den blassen Lippen zu sehen.
»Habt Ihr nicht
Euer ganzes Leben lang versucht, sie zu leugnen?«
Seine Ohnmachtsanfälle ließen sich
mittlerweile
nicht mehr kontrollieren. Seine Unbeholfenheit –
Körper und Geist im
Widerstreit. Seine Unfähigkeit – oder war es
Widerstreben? –, sich an eine
Beschwörung zu erinnern, die ihm zu große Macht
verlieh. Immer spielte er die
Rolle des Beobachters und weigerte sich einzugreifen, um nicht erfahren
zu
müssen, daß er für die falsche Seite Partei
ergriffen hatte.
»Aber was hätte ich tun sollen?«
verteidigte er
sich. »Wenn die Nichtigen erfahren würden,
daß ich die Macht eines Gottes
besitze, würden sie mich zwingen, davon Gebrauch zu
machen.«
»Zwingen? Oder in Versuchung
führen?«
»Ihr habt recht«, gab Alfred zu.
»Ich weiß, ich
bin schwach. Die Versuchung wäre zu groß gewesen, war zu groß. Ich habe
ihr nachgegeben, als ich dem Kind Gram das Leben rettete, obwohl ich
wußte, daß
sein Weiterleben verhängnisvolle Auswirkungen haben
würde.«
»Aus welchem Grund habt Ihr das Kind gerettet?
Aus welchem Grund«, – des Prinzen Schattenblick
richtete sich auf Haplo – »den
Mann? Euren Feind? Einen Feind, der gelobt hat, Euch zu vernichten?
Forscht in
Eurem Herzen nach der aufrichtigen Antwort.«
Alfred seufzte. »Ihr werdet enttäuscht
sein. Ich
wünschte, ich könnte sagen, daß ich einem
hohen Ideal gefolgt bin: ritterliche
Ehre, aufopfernder Mut. Aber es stimmt nicht. Bei Gram war es Mitleid.
Mitleid
mit einem ungeliebten Kind, das sterben sollte, ohne je einen Moment
des Glücks
erlebt zu haben. Und Haplo? Ich habe einen kurzen Augenblick lang in
seiner
Haut gesteckt. Ich kann ihn verstehen.« Alfred sah den Hund
an. »Ich glaube,
ich verstehe ihn besser als er selbst.«
»Mitleid, Erbarmen, Mitgefühl.«
»Das ist alles, fürchte ich«,
sagte Alfred.
»Das ist alles«, sagte
der Schemen.
Die Straße, auf der sie fuhren, war verlassen,
doch vor nicht allzu langer Zeit mußte ein Teil der Armee der
Toten hier
entlanggezogen sein, als die gewaltigen Scharen aus der Stadt
strömten und sich
auf die zahlreichen Wege und Pfade verteilten, die zur Feuersee
führten. Helme,
Schilde, Teile von Rüstungen, Knochen und hier und da ein
gestürztes,
auseinandergebrochenes Skelett bezeichneten ihre Spur. Leiterwagen,
zweirädrige
Karren wie auch Karossen von Gutsbesitzern standen verlassen auf der
Straße
oder lagen umgestürzt im Graben; die Insassen waren entweder
tot, oder die
Gerüchte vom Herannahen der Armee der Toten hatten sie bewogen
zu fliehen.
Zuerst war Alfred überzeugt gewesen, Tomas
hätte
recht gehabt. Seit sie die Katakomben verlassen hatten, war ihnen kein
lebendes
Wesen begegnet. Er fürchtete, daß jeder in und um
Nekropolis der Raserei der
Toten zum Opfer gefallen war. Doch während der Fahrt glaubte
er mehr als einmal
huschende Bewegungen in dem hohen Kairngras entdeckt zu haben, glaubte
zu sehen,
wie sich ein Kopf aus den Halmen reckte und Augen – lebende
Augen – furchtsam
zu ihnen herüberspähten. Aber jedesmal rollte die
Kutsche zu schnell vorüber,
um seine Gefährten darauf aufmerksam machen zu
können.
Doch es war ein winziger Funke Hoffnung, der die
Dunkelheit erträglicher machte. Ihm wurde leichter ums Herz;
ob es an der
neugefundenen Hoffnung lag oder an den tröstenden Worten des
Prinzen, wußte er
nicht genau. Sein Verstand war zu verwirrt, um folgerichtig denken zu
können.
Er klammerte sich verbissen an die Seitenwand der Kutsche. Das Leben
hatte Sinn
und Zweck! Welchen, das würde sich erst noch herausstellen
müssen, doch er war
wild entschlossen, die Suche nicht aufzugeben.
Ihr Gefährt näherte sich der Küste
der Feuersee
und damit auch der Gefahr. Vom Kamm eines Hügels schaute
Alfred auf den Hafen
hinunter, auf Scharen von Toten, die in chaotischem Durcheinander die
Schiffe
umdrängten. Er fühlte sich an eine Kolonie von
Feuerameisen
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