Feuersee
überblicken konnte, während er
seinerseits für alle zu sehen
war. Er stand mit dem Rücken zu Haplo und Alfred, aber der
Patryn konnte an der
steifen Haltung und den verkrampften Schultern erkennen, daß
der Mann fast am
Ende seiner Kräfte war.
»Mein Vater, euer König, ist tot. Erkennt
ihr
mich als seinen Nachfolger an?« Die herrische Stimme schnitt
durch das Getöse
wie eine blitzende Schwertklinge. »Oder gibt es jemanden, der
gegen mich ist?
Wenn ja, möge er vortreten! Wir werden es hier und jetzt
miteinander
austragen!«
Der Prinz warf den Pelzumhang ab und enthüllte
einen jungen, muskulösen Körper. Nach der Art zu
urteilen, wie er sich bewegte,
war er gelenkig, flink und offenbar geübt im Gebrauch des
Schwertes an seiner
Hüfte. Trotz seines Zorns blieb er ruhig und beherrscht. Haplo
hätte es sich
zweimal überlegt, gegen diesen Mann anzutreten, und auch
keiner aus der Menge
schien gewillt zu sein, die Herausforderung des Prinzen anzunehmen. Ein
paar
Atemzüge lang herrschte beschämtes Stillschweigen,
dann erhob sich ein Jubel,
der womöglich bis in die weit entfernte Stadt zu
hören war. Erneut schlugen die
Speere gegen die Schilde, aber diesmal als Huldigung und nicht aus
Trotz.
Der schwarzgekleidete Mann trat vor und ergriff
zum erstenmal das Wort. »Niemand stellt Euer Recht auf die
Krone in Frage,
Edmund. Ihr seid unser Prinz, und wir werden Euch folgen wie zuvor
Eurem Vater.
Doch es ist verständlich, daß wir um Eure Sicherheit
besorgt sind.
Wenn wir Euch verlieren, wer soll uns dann
führen?«
Der Prinz ergriff die Hand des Mannes, schaute
auf sein Volk, und als er sprach, war aus seiner Stimme deutlich die
Bewegung
herauszuhören, die er empfand. »Jetzt bin ich es,
der sich beschämt fühlt. Ich
habe die Beherrschung verloren. Wer bin ich schon, außer
daß ich die
unverdiente Ehre habe, der Sohn eines edlen Vaters zu sein? Jeder von
euch
könnte unser Volk führen. Ihr alle seid
würdig.« Viele seiner Untertanen
weinten, auch Alfred rannen Tränen über das Gesicht.
Haplo, der nie für möglich
gehalten hätte, daß er Mitleid oder Erbarmen
für jemanden empfinden könnte, der
nicht seinem Volk angehörte, betrachtete diese Leute, bemerkte
ihre schäbige
Kleidung, die verhärmten Gesichter und abgemagerten Kinder und
mußte sich
streng ermahnen, daß es Sartan waren, die er vor sich sah,
seine Feinde von
altere her.
»Wir sollten mit der Zeremonie
fortfahren«,
sagte der Mann in Schwarz, und der Prinz pflichtete ihm bei. Er sprang
von dem
Felsblock hinunter und gesellte sich zu seinem Volk.
Der schwarzgewandete Mann hob beide Hände, malte
verschlungene Symbole in die Luft und begann gleichzeitig mit hoher
Stimme eine
Litanei zu singen. Während er die Reihen der leblosen
Gestalten abschritt,
machte er über jeder ein Zeichen. Der beklemmende Singsang
wurde lauter,
gebieterischer.
Haplo spürte, wie sich die Haare in seinem
Nacken aufrichteten, und ein unangenehmes Prickeln durchlief seinen
Körper,
obwohl er kein Wort von dem Gesang verstehen konnte.
»Was tut er da? Was hat das zu bedeuten?«
Alfreds Gesicht war grau, in seinen
aufgerissenen Augen stand das blanke Entsetzen. »Er will die
Toten nicht zur
Ruhe betten! Er erweckt sie zu neuem Leben!«
»Nekromantie!« flüsterte Haplo
ungläubig,
bestürmt von widerstreitenden Gefühlen und
verworrenen Gedanken. »Mein Gebieter
hatte recht! Die Sartan beherrschen die Kunst, die Toten zu
erwecken!«
»Ja!« stöhnte Alfred und rang die
Hände. »Wir
besaßen, besitzen das Wissen. Aber es war tabu! Niemals
sollte Gebrauch davon
gemacht werden! Niemals!«
Der Mann in Schwarz hatte angefangen zu tanzen.
Er bewegte sich mit anmutigen Schritten zwischen den Toten umher, wob
um sie
ein Netz aus Gebärden und schrieb immer wieder die einzelnen
Zeichen in die
Luft, von denen Haplo jetzt ahnte, daß es mächtige
Runen waren. Und plötzlich
wußte er auch, weshalb ihn der Anblick der Leichen so
merkwürdig vertraut
angemutet hatte. Als er den Blick auf die Menge richtete, entdeckte er
unter
den Lebenden viele, die alles andere als lebendig waren. An sie hatte
er sich
beim Anblick der Toten erinnert gefühlt; sie hatten die
gleiche wächserne Haut,
eingesunkene Wangen und stumpfe Augen. Bei diesem Volk waren die Toten
in der
Überzahl!
Der Nekromant näherte sich anscheinend dem Ende
der Zeremonie. Weiße, körperlose Schemen
lösten
Weitere Kostenlose Bücher