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Feuersteins Drittes

Feuersteins Drittes

Titel: Feuersteins Drittes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Feuerstein
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am Washington Square angelangt, dem Herzen von Greenwich Village. Statt Nadelstreifen-Tigern, Prada-Schlampen und dem ewig drängelnden, rempelnden Fußvolk derer, die es noch werden wollen, sehen wir jetzt Skateboard-Artisten, schmusende Studenten und Schachspieler, die vor lauter Konzentration zu Statuen gefroren sind. Aus dem Großstadtmoloch ist ein Gartenzwerg geworden.
    Bitte verzeihen Sie, dass ich mich ungefragt zu Ihrem Fremdenführer ernannt habe — nach dem Lesen des nächsten Unterkapitels werden Sie das besser verstehen: Es ist der ehemalige New Yorker in mir, der sich mit lokalpatriotischem Eifer zu Wort meldet, stolz auf das Geheimwissen des Einheimischen, der Ihnen seine Tipps aufdrängt, ob Sie’s nun wollen oder nicht: die besten Donuts, die größten Steaks, die leichtesten Mädchen. Tatsächlich würde es mich freuen, bei denen, die New York schon kennen, die eine oder andere Erinnerung auszulösen, und die anderen, die es noch kennen lernen wollen, zu einem solchen Spaziergang 34 anzuregen. Natürlich können Sie auch jede andere Route wählen, den ganzen Broadway hinunter, einfach stur geradeaus oder in Mäanderwindungen kreuz und quer, damit Sie weder die UNO versäumen noch den Times Square. Wichtig ist nur, dass Sie am Washington Square ankommen, von mir aus auch mit dem Bus. Aber Letzteres wäre schade, denn schließlich ist New York neben San Francisco die einzige Stadt in sämtlichen fünfzig amerikanischen Bundesstaaten, die man als Fußgänger erobern kann.
    Jetzt würde ich Sie zum Halten zwingen, meine wichtigste Miene aufsetzen und einen Vortrag beginnen. Denn kaum eine andere Stelle verkörpert so konzentriert die kurze, heftige Geschichte der Stadt: Einst stand hier ein Indianerdorf, dann floh die halbe Bewohnerschaft des alten Neu-Amsterdams am Südzipfel Manhattans, wo heute die Wall Street liegt, vor dem Wüten des Gelbfiebers hierher »ins gesündere Grüne«. Später wurde ein Armenfriedhof daraus, daneben die öffentliche Richtstätte, die gleichzeitig ein beliebter Austragungsort für Duelle war. Und rundherum wuchs das erste Schwarzenghetto New Yorks, das sich bis 1920 hielt, als der große Exodus ins heutige Harlem begann.
    Seither gilt Greenwich Village als »Künstlerviertel«, obwohl das schon seit drei Jahrzehnten nur noch ein Touristenmythos ist: Den armen Künstlern ist es hier zu teuer geworden, den reichen zu spießig Zwar gibt es immer noch ein paar verwinkelte Gassen mit Straßencafés und ausschließlich für Touristen organisierter Montmatre-Stimmung, aber links und rechts haben sich neue Kulturinseln gebildet: Die wilden Straßen östlich des Washington Square gehören der New York University und ihren Studenten, und die gepflegten, höchstens vierstöckigen Häuser auf der Westseite mit ihren winzigen Vorgärten und schmiedeeisernen Gittern dienen als Statussymbol und Markenzeichen für eine neue, gutbürgerliche Gesellschaftsschicht, die in Greenwich Village die Nachfolge des Künsdervölkchens angetreten hat: die arrivierten Schwulen. Saubere Gehsteige, Blümchen am Fenster und Harley Davidson vor der Tür, mit Diskretion und vornehmer Zurückhaltung, die nur einmal im Jahr von der schrillen Christopher Street Day-Parade unterbrochen wird, zum Andenken an den 27. Juni 1969, als hier, in der Christopher Street, die historische Schwulenrevolte gegen Polizeiterror und Diskriminierung ausgetragen wurde.
    Aber wir wollten ja zu Doc Dave. Als Armendoktor hat der in Greenwich Village natürlich nichts verloren. Da müssen wir noch ein Stück weitermarschieren, hinüber ins so genannte East Village. Und bitte keine Angst, weder vor dem Ruf des Viertels noch vor mir: Angesichts des langen Weges, den wir bereits zurückgelegt haben, gelobe ich, mich zurückzuhalten, damit ich Sie nicht kurz vor dem Ziel mit der Fülle meines Wissens erdrücke.
    Ganz nach dem Gesetz des Wandels, das in New York so viele Stadtteile vom Slum zum Wohnparadies — und umgekehrt — werden lässt, ist das East Village heute das, was vor vierzig Jahren Greenwich Village war: ein quirliges, kreatives Viertel mit Chaos-Galerien, verrückten Kneipen und einer bizarren Mischung von jungen Freaks und greisen Spinnern. Hier findet man noch die allerletzten Dachstuben Manhattans, die weniger als tausend Dollar Miete kosten, aber überall wird bereits kräftig renoviert und investiert, sodass ziemlich klar ist: Wenn sich die wilden Kids, die jetzt noch die Szene beherrschen, ausgetobt haben und in

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