Feuersteins Drittes
dunkelblaue Karriereuniformen geschlüpft sind, entsteht hier das nächste Schickimicki-Zentrum. Dabei ist es noch gar nicht lange her, da wagten sich Polizisten nur mit kugelsicheren Westen zum Tompkins Square, dem Zentrum von Gewalt und harten Drogen. Mehrere Jahrzehnte lang galt das East Village als eine der übelsten Gegenden der Stadt, an Verrufenheit gleich an zweiter Stelle nach der legendären East Bronx. Wer 1970 bereit war, dort ein paar tausend Dollar in eine Slum-Absteige zu investieren, ist heute Millionär.
Vom Washington Square aus habe ich Sie direkt nach Osten geführt, ein kleiner Umweg, der sich aber lohnt, denn so erleben Sie ein Stück der prallen Zweiten Avenue, der Geburtsstätte von Dr. Learys psychedelischen Träumen. Dort biegen wir in die Sechste Straße ein, »New Delhi« genannt, die indische Fressgasse mit mindestens zwanzig winzigen Restaurants, eines neben dem anderen. Meine Frau und ich hatten uns mal vorgenommen, bei jedem Besuch ein neues zu erkunden, aber da sie einander bis aufs Barthaar des Türstehers gleichen, waren wir wahrscheinlich inzwischen sechsmal im selben...
Dann wenden wir uns nach Süden, zur East Houston Street, und sind endlich am Ziel. Hier grenzt das East Village an zwei nicht minder geschichtsträchtige Stadtteile: im Osten die Lower East Side mit ihrer vorwiegend osteuropäischen Tradition, von wo aus am Sabbath orthodoxe Juden zu Fuß über die Williamsburgh-Brücke nach Brooklyn wandern; und im Süden das legendäre Little Italy, wo die Paten mit ihren Leibwächtern Spaghetti essen und Betonsockel auch heute noch nicht als Halterung von Sonnenschirmen gekauft werden, sondern damit die Leichen schneller im Hudson versinken.
»DOC DAVE« steht auf dem handgemalten Schild über dem Ladeneingang eines bescheidenen Eckhauses, darüber ein gewaltiges rotes Kreuz, als gelte es, das Gebäude vor feindlichen Luftangriffen zu schützen, und man ahnt schon von weitem, dass dieser Doktor ein wenig anders ist. Denn an sich ist der Begriff »Arzt in New York« identisch mit Mercedes, Golfclub und Millionenerbin als Ehefrau. Von diesem klassischen Weg hat sich Dr. David gleich nach seiner Klinikpraxis verabschiedet. Nach eigenem Bekunden sieht er sich eher als Sorgenhelfer und nimmt dafür, was sich der Patient leisten kann... und das ist manchmal nur ein Händedruck. Sagt er jedenfalls — aber Sie wissen ja, wie wenig man Ärzten glauben kann, wenn es um die Abrechnung geht.
Da hatten wir natürlich eine gewaltige Schlange von Elendsgestalten vor der Tür erwartet, Szenen wie in Lourdes, und Stefan machte sich schon Sorgen, ob das Weitwinkelobjektiv zur Erfassung der Menschenmassen reicht. Aber als wir gegen elf Uhr vormittags ankamen, stand niemand vor dem Haus, und auch das winzige Wartezimmer mit dem abgewetzten Sofa war leer. In Erwartung der Sprechstundenhilfe öffnete ich die nächste Tür — und stand mitten im leeren Behandlungszimmer: eine Plastikliege, ein Stuhl davor, ein paar Medizinschränke, ein Bücherregal, sonst nichts.
»Fahrvergnügen!«, begrüßte uns Doc Dave, der hinter einem Schrank aus einer Art Abstellkammer gekommen war, etwa vierzig Jahre alt, in Hemd und Hose, kein weißer Kittel, nicht mal ein Stethoskop. Es war das einzige deutsche Wort, das er kannte, aus einer uralten Volkswagen-Werbung im amerikanischen Fernsehen. Ungefragt verkündete er sofort seine Heilslehre: Für schlimme Fälle gibt es Spezialisten und Krankenhaus, in allen anderen wird man von selber wieder gesund. Als Hausarzt sei er dazu da, Trost zu spenden, nicht Medikamente. Mein Reden! Der Mann war mir auf Anhieb sympathisch.
Wo denn die Patienten seien?
»Die stehen meistens erst mittags auf, wie ich«, sagte er: depressive Hausfrauen, Drogen-Kids, peinliche Infektionen, die man dem Familiendoktor lieber verschweigt, Aids-Betreuung. Nachts sei es manchmal ziemlich heftig, aber allzu viele Patienten hätte er ohnehin nicht, da sei das amerikanische System vor: »Wer mittellos ist, wird gratis behandelt, und wer ein bisschen was hat, möchte dafür wenigstens einen Labortest kriegen und ein Ultraschallfoto fürs Album.« Klingt eigentlich auch recht deutsch.
Dann fragte ich nach den Bildern, die hier überall hingen, roh und abstrakt, meist grobe, schmierige Farbstreifen. »Das ist die von mir erfundene organische Kunst«, erläuterte Doc Dave nicht ohne Stolz, denn er malt nicht nur mit Herz, wie man es von den Rembrandts und Van Goghs gewohnt ist, sondern auch mit
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