Feuersteins Ersatzbuch
Wort »Mord« zu inflationär verwendet. Ich bitte Sie um Verzeihung: Es ist der klassische Anfängerfehler des Autors, der meint, ein Krimi mit zehn Toten wäre zehnmal so spannend wie der mit nur einem.
In der Tat war es so, dass mir Wolpers ja nicht wirklich nach dem Leben trachtete, jetzt mal abgesehen von Alaska, als er mich damals auf dem Gletscher aussetzte, Lichtjahre von der Zivilisation entfernt. Aber das war ja auch unser erster gemeinsamer Film; da ahnte er noch nicht, wie wichtig ich für seine Entwicklung war. ( Weiterentwicklung , hatte ich ursprünglich hingeschrieben, aber gleich wieder durchgestrichen und durch Laufbahn, Reifeprozess, Werdegang, kreatives Wachstum und Entfaltung ersetzt; Entwicklung ist aber doch das beste Wort, denn es legt mich nicht fest: Es kann ebenso eine Entwicklung nach vorn bedeuten wie eine nach hinten, und verhindert damit den abwegigen Eindruck, ich würde was Nettes über Wolpers sagen.)
Wolpers will mich nicht töten, nimmt aber die Möglichkeit meines Todes billigend in Kauf, wenn er mir Aufgaben stellt, denen kein Sterblicher gewachsen ist. »Das macht keiner auf der Welt außer dir!« lockt er mich mit honigsüßer Heuchelei immer wieder ins Verderben, und wenn ich hinterher nur ohnmächtig bin, ohne offene Wunde, besteht er darauf, das Ganze ein paar Mal zu wiederholen, angeblich wegen nötiger Schnittbilder aus anderer Perspektive. »Grimmepreis-verdächtig«, lautete dabei sein Schmeichelruf, den ich aber niemals ernst nehme, denn erstens gibt es bei diesem durchaus begehrenswerten Fernsehpreis keine Kategorie »Idioten-Stunts und Selbstmordversuche«, und zweitens waren wir bisher trotz aller Anstrengungen nicht mal auch nur in die Vorauswahl gekommen. (Was mich übrigens eiskalt lässt, da ich — drittens — bereits einen Grimmepreis habe, bäh, Wolpers!)
Richtig und absichtlich totmachen will er mich also nicht. Es konnte aber durchaus passieren, dass Wolpers beim Drehen in eine Art Blutrausch geriet und dabei völlig vergaß, dass wir noch ein paar Drehtage vor uns hatten, an denen er mich lebendig brauchte — und ich werde nie die Begegnung mit dem Löwen vergessen, in freier Wildbahn, mit der Stimme von Wolpers im Ohr, als er versuchte, mich per Funk in willenlose Trance zu quaken: »Näher ran! Du musst viel näher ran!« — Aber alles der Reihe nach.
Es begann mit der Eisenbahnfahrt, die — wie ich schon an anderer Stelle beschrieb — in Kenia ein ganz besonderes Abenteuer ist. Zwar fahren die Züge selten schneller als dreißig Kilometer pro Stunde, aber selbst das ist zu schnell, wenn das Schienenbett unterwaschen ist, eine Brücke einstürzt oder auf dem gleichen Gleis ein Güterzug entgegenkommt, den der Fahrdienstleiter vergessen hat, weil um diese Zeit sonst nie einer fährt. Trotzdem ist eine solche Bahnreise stets ein wundersames Erlebnis, das man weder persönlich noch im Film missen möchte: die feierliche Würde des musealen Bahnhofs von Nairobi, wo man noch Bahnsteigkarten lösen muss, um ihn zu betreten; die nostalgischen Wagen mit deutschen Loks aus der Zeit des Ersten Weltkriegs; und vor allem der britisch-koloniale Speisewagen, der so schaukelt, dass einem die Spaghetti um die Ohren fliegen.
In einer riesigen Schüssel werden sie vom uniformierten Kellner aufgetragen, und während gewöhnliche Fahrgäste bei jedem Schritt durch den schlingernden Wagen von einer Seite auf die andere tänzeln, trägt dieser ruhig und trittsicher seine Fracht. Kenner setzen sich übrigens immer an den ersten Tisch und vermeiden dadurch, leer auszugehen, falls sich ein stämmiger Lokalpolitiker, der als Erster an der Reihe war, bereits den gesamten Spaghettohaufen selber zugeteilt hat — das ist in der afrikanischen Lokalpolitik einfach so üblich. (Eine Beobachtung beim Aussteigen: Auf dem Bahnsteig gingen die Passagiere wieder gerade, aber dafür tänzelte der Speisewagenkellner. Wie ein Matrose nach langer Seefahrt hatte er eindeutig Probleme, als der Boden unter seinen Füßen wieder fest war.)
Für unseren Dreh hatten wir nicht die Touristenrennstrecke nach Mombasa gewählt, sondern die andere Richtung: Am Äquator entlang nach Kisumu, der alten Provinzhauptstadt am Viktoriasee. Hier fuhren die Züge zwar ganz unregelmäßig, mit noch höherer Unfallquote als auf der Hauptstrecke, aber dafür konnten wir einen Trick anwenden, der anderswo unmöglich war: nämlich den gleichen Zug, in dem wir innen filmten, auch bei seiner Ankunft an einem
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