Feuersteins Reisen
dass man ihn vorher rädert, köpft, verbrennt, ertränkt und zerstückelt, darauf beruht schließlich die Geschichte der Zivilisation. Man darf ihn nur nicht aufessen. Das ist primitiv.
In Vanuatu, besser gesagt in den alten Neuen Hebriden, aß man seinen Feind ganz offen und ehrlich, als festen Bestandteil von Kalorienhaushalt und öffentlicher Ordnung. Nicht dass ich diesen Brauch auch für die Europäische Union vorschlagen will. Aber ich kann mich darüber nicht aufregen. Für mich ist Kannibalismus nicht mehr, aber auch nicht weniger grausam als das, was wir selber in den letzten paar Jahrtausenden unserer Geschichte getrieben haben, aber zusätzlich wenigstens nahrhaft.
Nun gibt es nicht wenige Ethnologen, die behaupten, die Menschenfresserei wäre pure Legende, und Anthropophagen habe es zu keiner Zeit in keiner Kultur gegeben, von ein paar Irren sowie Hannibal Lecter abgesehen. Der Gegenbeweis ist schwer anzutreten, denn schriftliche Überlieferungen gibt es in Vanuatu nur aus zweiter Hand, was ja auch verständlich ist: Wer immer als christlicher Seemann, Sklavenhändler oder Missionar bei einer solchen Mahlzeit dabei war, war hinterher rasch verdaut; Überlebenschancen hätte er nur als Mitesser gehabt — und wer würde das jemals zugeben. Andererseits kennt man von keiner Gegend der Welt mehr Berichte über Kannibalismus als von Melanesien, und hier wiederum vor allem von der geheimnisvollen Vanuatu-Insel Malekula mit ihren unzugänglichen Bergen und Schluchten, die in den Tourismus-Prospekten ganz offen als »Menschenfresserland« angepriesen wird. Auch die selbstverständliche Art, wie sich die Einheimischen bis hinauf zum Anthropologie-Professor dazu bekennen, spricht für den Wahrheitsgehalt. Oder verarschen sie uns nur, und der Kannibalismus der Melanesier ist genauso eine lächerliche Tourismus-Legende wie die Warmherzigkeit der Österreicher?
Ich glaube nicht. Die freundlich musternde Neugier, mit der man uns immer wieder begegnete, die liebevoll prüfenden Blicke auf das fettlose Muskelfleisch von Erik, dem Friesenkämpfer, sowie die Geringschätzigkeit, mit der man die Dörrwurst Wolpers überging, hat mich überzeugt: Mit der gleichen Einstellung gehe auch ich jeden Samstag über den Marktplatz auf der Suche nach Hähnchenbrust und Rotbarschfilet. Die Phrase »zum Fressen gern« erhielt für mich eine neue Bedeutung.
Die Grundregeln des melanesischen Kannibalismus sind von zwingender Klarheit und ähneln in ihrer Struktur den Regeln der freien Marktwirtschaft: Wer einer anderen Dorfgemeinschaft angehört und eine andere Sprache spricht, gilt als Feind; jede Begegnung mit ihm, und mag sie noch so zufällig und harmlos sein, wird als Grenzüberschreitung und Tabu-Bruch angesehen, und dafür gibt es nur eine Lösung: Er wird getötet und verspeist. Friedliche Zusammenkünfte zwischen den Dörfern oder gar Zwischenheiraten sind nur im Rahmen langer, komplizierter und sorgfältig vorbereiteter Feste möglich — war das bei uns nicht bis vor kurzem genau so?
Die Missionare bemühten sich natürlich redlich, eine Diätumstellung von menschlichen auf tierische Fette zu erwirken, erreichten aber eher das Gegenteil. Denn die Bekehrten vermochten einfach nicht einzusehen, dass man Brot und Wein erst umständlich in Fleisch und Blut verwandeln müsse, wo doch das echte Zeug zu haben ist. Dazu kam, dass die Missionare selber als ganz besonderer Leckerbissen galten. Denn während einheimisches Fleisch von Sonne und harter Arbeit meist lederhäutig und zäh war, erwies sich christliche Importware als zart und rosig, von den Knien abgesehen, die man ein paar Tage lang in Salzwasser aufweichen musste, wegen der Knubbel vom vielen Beten. Durch die Missionare sei man erst richtig auf den Geschmack gekommen, lautet eine lokale Anekdote. Und damit keiner denkt, dass dies alles Urzeiten zurückliegt: Der letzte, amtlich belegte Fall von Kannibalismus in Vanuatu geschah 1969.
Dass es in Melanesien so viele Sprachen gibt — allein in Vanuatu mehr als hundert bei nicht mal 200 000 Einwohnern — gilt als direkte Auswirkung des Kannibalismus. Denn die Dorfgemeinschaften lebten streng abgeschottet von einander, in ständiger kriegerischer Auseinandersetzung. Ein falsches Wort war meist auch schon das Todesurteil für den Sprecher, für einen Übersetzungsversuch blieb gar keine Zeit. Allein auf einer einzigen großen Insel wie Malekula konnten sich daher mehr als zwei Dutzend Sprachen behaupten, die untereinander
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