Feuersuende
schüttelte. Trotzdem konnte der nächste Schatten eine echte Bedrohung bedeuten. Wer immer da draußen war, mit seiner nächsten Aktion wäre er in der Lage, sie im Raketentempo in die Hölle zu befördern.
Sie hörte, wie hinter ihr die Kommode geöffnet wurde, ganz leise, wie sie es geübt hatten. Keine Bewegung, kein Geräusch, das sie verraten konnte. Nur dass das hier keine Übung war. Sie mussten hier raus. Auf der Stelle.
„Die schwarzen Socken“, sagte Bryn. Schwarze Hose, schwarzer Pullover, schwarze Jacke, schwarze Schuhe. Alles, was sie in der Nacht verbergen konnte.
„Nein, ich will Pink“, antwortete Dana aufmüpfig.
Unwillkürlich und ungerufen hatte sie Lokans Stimme im Ohr, und für einen Moment wurde ihr dabei warm ums Herz. Glaubst du im Ernst, ich diskutiere mit einer Sechsjährigen? Da kann ich ja nur verlieren . Er hatte einen so guten Draht zu Dana gehabt. Niemals verlor er seine Gelassenheit. Vielleicht war es einfacher, so entspannt mit ihr umzugehen, wenn man nur Teilzeit-Vater war. Er war ja nur da, wenn es um Spaß und Vergnügen ging. Wie oft hatte sie sich das eingeredet, weil sie nicht einsehen wollte, dass er ein Recht hatte, ein Teil von Danas Leben zu sein. Dafür war er nicht vorgesehen. Er hätte nur der Samenspender sein sollen, sonst nichts.
Da ist meine Kleine . Wie er das sagte, als er sie zum ersten Mal sah, schwang darin ein ungläubiges Staunen mit. Aber ein Blick auf Dana hatte genügt, und er wusste Bescheid und meldete seine Ansprüche an. Bryn hatte nicht die leiseste Chance, ihm das auszureden. Dana war ihrem Aussehen nach mit ihrem weizenblonden Haar und den strahlend blauen Augen sein Ebenbild in einer kindlichen, weiblichen Version. Sie war seine Tochter. Da war kein Zweifel möglich.
Dass Lokan darauf bestanden hatte, einen Platz in ihremLeben einzunehmen, hatte sie ziemlich genervt. Inzwischen war Bryn fast so weit, ihn dafür zu hassen, denn das Pochen auf sein Recht an seiner Tochter hatte sie geradewegs in dieses Unglück gestürzt. Aber er war es natürlich nicht allein gewesen. Schon dadurch, dass sie Dana überhaupt erst in die Welt gesetzt hatte, trug auch sie die Verantwortung. Was für ein elendes Durcheinander, an dem sie beide beteiligt waren. Sie hatten mit einer Menge Lügen gelebt und waren unangenehmen Wahrheiten aus dem Weg gegangen, obwohl sie wussten, dass das gefährlich sein konnte. Oft genug hatte Bryn sich gefragt, ob die Dinge einen anderen Verlauf genommen hätten, wären sie offen zueinander gewesen. Aber wahrscheinlich nicht. Möglicherweise wäre es sonst noch schlimmer ausgegangen.
Bryn unterdrückte ihre aufkommende Wut. Sie hatte gar kein Recht, sich als unschuldiges Opfer aufzuspielen. Sie selbst hatte Lokan von Anfang an belogen.
„Meinetwegen die schwarzen Socken mit den rosa Herzchen oben am Rand“, lenkte Bryn ein. Die kleinen Herzchen würden sie nicht verraten, und sie ersparte Dana so das Gefühl einer Niederlage. Erleichtert nahm Bryn zur Kenntnis, dass Dana sich darauf einließ. „Soll ich dir bei den Schuhen helfen?“, fragte sie dann, wobei sie weiter die Straße im Blick behielt. Die Bäume bewegten sich im Wind. Gerade schob sich eine Wolke vor den Mond. Wie viele mochten da draußen sein? Was hatten sie vor? Ihre innere Unruhe wuchs unaufhörlich.
„Aber Mommy“, kam empört die Antwort, „das kann ich doch schon selbst.“
„Doppelknoten“, forderte Bryn knapp. Unterwegs war keine Zeit, die Schuhe noch einmal richtig zuzubinden.
„Fertig. Kann ich meinen Rucksack mitnehmen?“
Bryn merkte, dass Dana misstrauisch wurde, und hatte Gewissensbisse. Das letzte Mal, als sie in aller Eile aufbrechen mussten, hatten sie alles hinter sich gelassen – Spielsachen, Kleidung, sogar Flopsy, die Plüschkatze, Danas liebstes Kuscheltier, das ihr schon seit ihrem ersten Lebensjahr gehörte.Bryn konnte sich noch genau daran erinnern, wie Lokan es ihr geschenkt …
Nein – sie konnte jetzt nicht auch noch an Lokan denken und daran, wie sehr er dieses Kind geliebt hatte. Und wie sehr sie selbst ihn tief in ihrem Innersten doch vermisste. Lokan war tot. Er war von ihnen gegangen und würde niemals wiederkehren. Und er war auch der Grund, warum sie jetzt mit Dana ständig auf der Flucht war.
„Deinen Rucksack nehme ich.“ Bryn trat vom Fenster weg und griff sich den schwarzen Kinderrucksack, den Dana jeden Abend vor dem Zubettgehen mit ihren Schätzen für den Fall vollstopfte, dass sie fortlaufen mussten.
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