Feuertanz
Ingrid vor fünfzehn Jahren die Wahrheit gesagt hätte, hätte das einem armen, unschuldigen Mädchen viel Leid erspart. Vielleicht wäre sie jetzt noch am Leben und nicht ermordet worden!«, meinte sie.
Sofort bereute sie ihre Worte, aber immerhin hatten sie der Altenpflegerin den Mund gestopft.
Auch Ingrid war verstummt. Mit fest geschlossenen Augen und zusammengepressten Lippen lag sie da. Von ihr würden sie nichts mehr erfahren.
Sophie hatte die Wahrheit gesagt.
Die Wächterin existierte.
Angelica hatte gerade die letzte Tanzstunde beendet, als sie sie telefonisch im Haus des Tanzes erreichten. Widerwillig erklärte sie sich dazu bereit, ins Präsidium zu fahren, um mit Tommy und Irene zu sprechen.
Als sie ankam, entschuldigte sie sich als Erstes dafür, dass sie noch nicht geduscht und sich umgezogen hatte. Das würde sie erledigen, sobald sie zu Hause war, vertraute sie Tommy mit einem gurrenden Lachen an. Sie warf ihm einen schelmischen Blick zu. Unter ihrem Mantel trug sie ihren Ballettanzug. Der Geruch ihres warmen Körpers vermischte sich mit ihrem Parfüm. Es war angenehm sinnlich. Es gelang ihr, Irene gänzlich zu übersehen. Wahrscheinlich nahm Angelica nie Frauen zur Kenntnis, wenn sich gleichzeitig ein Mann im Zimmer befand. Bei Männern suchte und fand sie ihre Bestätigung. Tommy schien sein Bestes zu geben, um Angelica zu diesem Erfolgserlebnis zu verhelfen. Zum Dank warf sie ihm kokette Blicke zu und schäkerte mit ihm. Nach einer Weile war er vollkommen hingerissen. Irene hätte genausogut ein Möbelstück sein können. Hässlich und fehl am Platz, nichts, was man hätte beachten müssen. Irene war es gründlich leid, die Rolle des unerwünschten Störfaktors zu spielen, und entschloss sich, endlich ein ernstes Wörtchen mit Angelica zu reden. Von Tommy schien sie keine Hilfe erwarten zu können.
»Sie fragen sich vielleicht, weshalb wir Sie hierher gebeten haben?«, begann sie.
Ihre Stimme klang unnötig scharf, aber das zwang Angelica wenigstens, sie zur Kenntnis zu nehmen.
»Setzen Sie sich«, fügte Irene etwas freundlicher hinzu.
Tommy holte für Angelica einen Stuhl. Er sah Irene fragend an und deutete auf den anderen Stuhl, aber diese schüttelte den Kopf. Rasch nahm er gegenüber von Angelica Platz.
Irene räusperte sich, ehe sie mit dem Verhör begann.
»Heute haben wir uns mit Ihrer ehemaligen Schwägerin Ingrid Hagberg unterhalten. Wie Sie wissen, war sie erneut in ein Diabeteskoma gefallen. Irgendjemand brachte ihr eine Schachtel supersüße Nougatpralinen mit.«
Angelica wirkte geistesabwesend und desinteressiert. Sie schlug die Beine übereinander und wippte nervös mit ihren hübschen Stiefelchen. Ansonsten deutete nichts darauf hin, dass sie überhaupt zuhörte.
»Auf der Tüte, in der die Nougatschachtel lag, befanden sich Ihre Fingerabdrücke. Haben Sie dafür eine Erklärung?«
Die zierliche Gestalt erstarrte, und das Wippen hörte auf. Sie schluckte mehrmals, ehe sie mit Mühe über die Lippen brachte: »Das … das ist unmöglich! Ich habe nie …«
»Wir haben Ihre Fingerabdrücke gefunden«, beharrte Irene ruhig, ohne die Augen von Angelica zu lassen.
Angelica wich Irenes Blick aus und sah flehend Tommy an, der ihr aber auch nicht helfen konnte. Um seine Lippen spielte zwar immer noch ein Lächeln, aber in seinen Augen war dieselbe Frage zu lesen, die Irene gerade gestellt hatte und die einer guten Antwort bedurfte.
»Kann schon sein, dass ich mal dort war und eine Tüte mitbrachte«, murmelte sie.
»Wann könnte das gewesen sein?«
»Ich erinnere mich nicht …«
»Als wir uns vor etwas mehr als einer Woche in Björkil getroffen haben, haben Sie behauptet, Ingrid habe Sie nicht reingelassen. Ich habe gesehen, wie Sie auf das Haus zugingen und bereits nach wenigen Minuten wieder zu Ihrem Wagen zurückkehrten. Das stimmte also. Sie haben mir auch erzählt, dass Sie und Ingrid seit fünfzehn Jahren keinen Kontakt mehr zueinander gehabt hätten.«
Sie schwieg und sah Angelica durchdringend an, was vollkommen unnötig war, denn diese fixierte einen Punkt vor Irenes Schuhen.
»Bei welcher Gelegenheit haben Sie also die Tüte dagelassen?«
Angelica schwieg beharrlich, also fuhr Irene fort: »Sie waren in Wahrheit nie bei Ingrid in der Wohnung. Sie kamen irgendwie ins Haus. Dann haben Sie die Schachtel mit den Nougatpralinen einfach durch den Briefkastenschlitz geschoben, und zwar in der Tüte. Sie wussten, dass sie dem süßen Nougat nicht würde
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