Feuerwasser
Organismus des Menschen hat; er kannte die Heilkräuter und die Giftkräuter; seine klobige, rot und blau angelaufene Nase, die der Trinkfestigkeit des Mannli ein gewichtiges Zeugnis ausstellte, roch gewisse Pflanzen schon auf weite Entfernung.«
Nicole hatte sich bald mit einer angebrochenen Flasche Humagne Rouge von Gregor Kuonen und Söhne aus Salgesch zurückgezogen, süffelte genießerisch den im Barrique ausgebauten Wein und freute sich an der überraschenden Auswahl von Wasser-, Berg- und Hotelromanen, die sie aus dem Regal mit hochgenommen hatte.
So eine Riechnase müsste man haben , sinnierte sie, wie das Chrütermannli, man würde jeden Verbrecher schon von Weitem erkennen .
Wie so oft versenkte sich Nicole in Literatur, und es ging um immer dieselbe Frage: Ist der Roman, ist die Imagination schuld an der Wirklichkeit, oder ist er nur das Abbild der Realität? Ist der Krimi die Ursache des Bösen oder die Antwort darauf? Und wie immer befriedigte sie bereits diese duale Fragestellung nicht. Sie konnte die Kausalität nicht finden. Schöpft der Autor aus sich selber, das heißt aus der Summe des Lebens, das er geführt hatte, ist die Fantasie Sklave der erlebten und von ihm gedeuteten Wirklichkeit? Oder produziert er Realität, indem er seine Sicht der Welt in künstlerische Form bringt? Und ein Leser kreiert daraus seine eigene Welt, indem er, aufbauend auf den Erfahrungen seines Lesens, in seinem Kopf Figuren auftauchen und Handlungen ablaufen lässt? Oder ist alles ein riesiger Strom, aus dem Wellen entstehen, die jedes Mal anders aussehen, auch wenn sie stets dieselbe Ursache haben? Der Leser und das Buch. Der Autor und sein Text.
Nicoles Gedanken hatten sie fortgetragen. Sie griff zu Jeremias Gotthelfs Wassernot im Emmental . Gestern erst hatte sie einen Zeitungsbericht gelesen, der erzählte, wie die beim damaligen Unwetter weggerissenen Ställe und Häuser als Schwemmholz viele Kilometer weiter unten an der Aare von emsigen Händen eingesammelt und zu notdürftigen Behausungen der Tauner – das waren die verarmten Taglöhner – zusammengezimmert worden waren. So wurde das Unglück der einen zum Glück der anderen. Bis zum nächsten Unwetter.
Je mehr Krimis aus den ländlichen Gebieten der Schweiz Nicole las, desto überzeugender fand sie die These von Paul Ott, der in einer Radiosendung vor ein paar Jahren zum ersten Mal von der ›Gotthelfisierung‹ des Schweizer Kriminalromans gesprochen hatte. Vielleicht war es ein vornehmer Begriff für »Regionalkrimi«, es ging jedenfalls um etwas Ähnliches, nämlich um den genauen Blick auf das Leben der Menschen in den gewählten Handlungsräumen, um eine gewisse Sympathie für die Geschundenen dieser Erde, aber auch um einen glasklaren Blick für die Abgründe, die den Einzelnen zu seinen Handlungen trieben.
Friedrich Glauser hatte diesen Blick gepflegt, hatte die Atmosphäre von Georges Simenon übernommen und sie aufs schweizerische Maß übertragen, hatte den stilbildenden Wachtmeister Studer erfunden. Bloß hatte der wenig mit Wasser und Bergen zu tun, schon eher mit der Wüste und der Fremdenlegion.
Nicole zog Sandmeere von Isabelle Eberhardt aus dem Stapel, die sich 20 Jahre früher in ähnlichen Wüstengebieten aufgehalten wie Glauser. »Frauen in blauen und roten Gewändern steigen ins Bett des Wadi herab; sie tragen Behälter aus Ziegenleder oder schwere irdene Krüge … Da sie barfuss über den Kies und den Sand gehen, scheinen sie wie Geister über den Boden zu gleiten und verleihen dem friedlichen, sanft melancholischen Reiz dieser Landschaft eine besondere Note …«
Wüste und Wasser, die beiden Extreme, die das Leben der jungen Isabelle bestimmen, ein Wanderleben zwischen den Welten, das mit 27 Jahren zu einem tragikomischen Ende führt: Als Isabelle Eberhardt nach mehreren Wochen Spitalaufenthalt wegen eines heftigen Malaria-Fiebers aus den höheren Vierteln des algerischen Wüstenorts Aïn Sefra in ihr bescheidenes Haus zurückkehrt, wird sie von einem der seltenen, aber in diesem Fall schweren Unwetter überrascht und stirbt in den Trümmern ihres Hauses, das vom Wasser zerdrückt und weggespült wird. Nur ihre Manuskripte können gerettet werden.
Alles Träumer und Suchende, Irrläufer und Fantasten, Vampirjäger und die Geschöpfe der Nacht, unter denen Nicole ihr Alter Ego wiederfindet: Lucy Westenra, deren Tagträume im gutbürgerlichen England des 19. Jahrhunderts erotischer Natur sind. Sie ist nicht reinen Wesens, sodass
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