Feuerwasser
erzählte der Schwarzbrenner, »oberhalb Lusbüel quer durchs Gelände gezogen und endlich über die Sichle verschwunden, ins Eriz oder nach Sigriswil, ich weiß es nicht.«
»Du bist ihm nicht gefolgt?«, fragte Sämu.
»Ich hab anderes zu tun, als jedem Deppen hinterherzurennen. Außerdem hab ich was gefunden, das alle Justistal-Ausbaupläne für immer begraben wird.«
»Was denn?«, fragte Nicole aufgeregt.
»Mädchen«, sagte Kohler, »wenn du deine Neugier nicht zügeln kannst, wirst du von einem Bauern nie etwas erfahren.«
Nicole war diese Zurechtweisung peinlich, denn seit ihrer Feldforschung im Emmental 2 war ihr dies bestens bekannt. Aber in der lebhafteren Stadt – auch wenn es nur Bern war – hatte sie ihre Gewohnheiten längst wieder angepasst.
»Dort oben«, Kohler zeigte mit dem Stiel seiner Pfeife an die Fluh des Schibe, des nächstgelegenen Gipfels der Sieben Hengste, »habe ich damals einen Platz gesucht, von dem man dereinst meine Asche ausstreuen soll, mit Blick auf den Niesen. Und die beste Sicht hat man von dort oben. Das hat vor mir schon jemand gemerkt. Denn überall, wo man das vertrocknete Moos wegkratzt, kommen Felszeichnungen zum Vorschein. Bestimmt prähistorisch. Häuser, Tiere, tanzende Menschen, Striche und Punkte, Schalensteine. Ich weiß nicht, wie viele es sind. Wenn der Kantonsarchäologe etwas davon erfährt …«
»So kenn ich dich gar nicht«, sagte Sämu, »dass du Geheimnisse mit jemandem teilst, und dann noch mit Leuten aus der Stadt.«
Zum ersten Mal lachte der Kohler Andreas.
»Weißt du, Sämu, man muss mit der Zeit gehen. Heute braucht man eine Lebensversicherung.«
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1 mit dickem Rahm
2 Siehe Paul Lascaux: ›Salztränen‹
Mittwoch, 17. September 2008
» Der Himmel brannte wie ein einziges Feuermeer. Die Spitze des Finsteraarhorns glich mit einem Male einem ungeheuren Leuchtturm, von dem aus purpurne Strahlen ins All hinausschossen. Als wäre der Gipfel des Berges ein riesiger Rubin, dessen Kristallschale von innen heraus durchglüht wurde.«
So beschreibt Gustav Renker 1940 in Schrattenfluh das Alpenglühen«, begann Louise Wyss ihren Powerpoint-Vortrag ›Feuer & Wasser‹ über das Berner Oberland. Knapp 20 Leute waren gekommen, um den Ausführungen des ehemaligen Models zu lauschen.
Im feinen, klar geschnittenen Gesicht mit dem kirschroten Mund und den glasklaren Augen spiegelte sich eine neue Zufriedenheit, als sie mit dem Vortrag fortfuhr. Sie stellte zwei Exponenten der Aktionsgruppe Freies Berner Oberland AFBO vor: Domenica Brillo und Frédéric Zimmermann. Das Mädchen war keine 20 und sehr blond. Sie hatte ein schmales, blasses Gesicht mit wachen, stahlblauen Augen und dünn gezupften Wimpern. Ein blassrosa Mund, klein, aber mit weichen Lippen. Im Profil klassisch mit beinahe gerader Linie. Wenn sie lächelte, kam Bewegung in ihr Antlitz, und ihre feinen Hände mit den langen, manikürten Fingernägeln zuckten leicht. Aber leider lächelte sie nur selten.
Heinrich beugte sich zu Leonie hinüber und flüsterte: »Schleppt sie uns ein paar Verdächtige ins Haus. Schlecht fürs Geschäft.«
Domenica trug trotz des warmen Wetters eine hellbraune Winterwolljacke, dunkelbraune, weiche Hosen, elegante dunkelbraune Schnürstiefel sowie eine braune Tasche mit Silberbroschenverschluss, aus der sie nun Anmeldeformulare verteilte.
Louise sprach derweilen von den Luchsen im Simmental, die durch gnadenlose Jagd in ihrer Existenz gefährdet waren, und zeigte ein Foto von vier abgeschnittenen Pfoten, die ein stolzer Jäger den Behörden zugeschickt hatte. Ein Schrei der Empörung ging durchs Bernerland, allerdings vor allem durch die Stadt. Auf dem Land traute man sich weniger, mit dem Luchs und seinen Beschützern gemeinsame Sache zu machen, denn ein Schuss aus einem Jagdgewehr konnte sich durchaus auch mal verirren und in eine heimelige Stube einschlagen.
Frédéric war wenig älter als Domenica, mit langen birnbaumfarbenen Haaren und einer Wollschirmmütze. Er wetterte gegen den geplanten Naturpark Thunersee-Hohgant, der zwar vorgebe, das Gebiet zwischen Thun und Schangnau zu schützen. »Dieser Schutz funktioniert aber nur im Einverständnis mit der ansässigen Bevölkerung, und die will weiterhin allen wirtschaftlichen Tätigkeiten nachgehen, ja sie soweit möglich noch ausbauen. Geführte Touren zu den Kraftorten, zu Hexenplätzen, Schalensteinen, Höhlen werden durcheinander im Wettstreit mit Besichtigungen von Industriedenkmälern und
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