Feuerwasser
Kohler bemerkte, war es zu spät, der verfügbare Raum zwischen Felswand, Weg und Abgrund zu schmal, der Lauf des Tiers nicht mehr zu bremsen. Und da sich der Steinbock instinktiv an der Bergseite orientierte, blieb Andreas, wenn es nicht zum Zusammenstoß kommen sollte, nur ein Schritt auf die Talseite. Der Bock wirbelte am Schwarzbrenner vorbei. Kohler, der sein eigenes Tempo hätte auffangen müssen, befand sich bereits in der Drehung, als er merkte, dass sein rechter Fuß keinen Halt mehr fand.
Der Sturz selber war dann nicht halb so spektakulär. Andreas Kohler schlug auf seinem langen Weg nach unten nur zwei Mal auf: Das erste Mal knackte sein Genick, das zweite Mal warf ihn auf eine Alpweide, wo der leblose Körper sich noch ein paar Mal um die eigene Achse drehte und zwischen zwei Kühen zu liegen kam. Die Tiere stoben erschreckt auseinander.
Oben am Grat stand ein Mann mit tief in die Stirne gezogenem Käppi und blies wie ein Westernheld imaginären Rauch von seiner Pistole. Auch er hatte einen Flachmann mit Enzian dabei, den er Andreas Kohler im letzten Jahr abgekauft hatte. Auch er brauchte das Getränk gegen die aufsteigende Galle und zur Bekämpfung seiner Magenschmerzen.
Zu behaupten, die Anwesenheit der Police Bern hätte Sigriswil nach diesem dritten Todesfall, der nun einen der ihren getroffen hatte, beruhigt, wäre eine schamlose Übertreibung gewesen. Im Gegenteil: Die Leute standen an diesem milden Donnerstagabend zu Trauben versammelt auf der Straße. Es war aber keineswegs so, dass sich alle auf die Polizisten aus Bern gestürzt hätten. Es gab Gruppen, die ausdrücklich begrüßten, dass Leute von außerhalb des Dorfes »diesen Saustall« endlich ausmisteten. Andere fanden, die »fremden Fötzel« hätten in ihrer Gemeinde nichts zu suchen. Das Übliche halt, wenn der Spaltpilz mitten durch den Ort geht, weil die Interessen diametral verschieden sind.
In einem aber waren sich alle einig: Niemand wollte glauben, dass der Kohler Andreas rein zufällig vom Sigriswilgrat gestürzt sei. Auf die Frage jedoch, wer nachgeholfen habe, waren keine Antworten zu erhalten. Auch die Fahrt auf die Obere Zettenalp, von der der Schwarzbrenner mit dem Auto geborgen worden war, brachte keine Erkenntnisse. Niemand hatte den Sturz beobachtet, geschweige denn dessen Ursache. Der Senn hatte nur ein dumpfes Geräusch gehört und zuerst befürchtet, eine seiner Kühe sei gefallen. Er sah sie denn auch über die Weide rennen und eilte gegen die Fluh, um für Ordnung zu sorgen. So fand er Andreas Kohler. Leider ohne Enzian zur Beruhigung der Magennerven.
Der Niesen nahm inzwischen das letzte Abendlicht auf und schimmerte als blauer Koloss wie auf Paul Klees Gemälde von 1915. Ein beinahe surrealer Blick der Berge auf eine ebenso surreale Szenerie in einem Dorf auf der anderen Seite des Sees.
Bei all den Gesprächen kam heraus, dass der Tote als Sonderling galt, von allen respektiert, aber als Dorfbewohner kaum geschätzt. Zwar wussten alle von seiner Tätigkeit am Brennhafen, und bei den meisten stand zu Hause auch eine Flasche seines Schnapses, aber es ging eben auch das Gerücht, er habe unbedarften Touristen mindere Qualität verkauft, und der Hotelier habe eine Woche lang unpässliche Gäste hüten dürfen, Gesamtreinigung der sanitären Anlagen inklusive, nichts von magenberuhigender Wirkung.
Auf der anderen Seite konnte sich niemand vorstellen, dass einer dem Dorforiginal zu nahe getreten war, zu groß waren der Respekt vor der Person und die Angst vor seinen Fähigkeiten. Denn wer sich mit Kräutern derart gut auskannte, hatte bestimmt auch das eine oder andere Schaden stiftende Mittel zur Hand.
Pascale Meyer interessierte sich sehr für diese Seite von Kohlers Fertigkeiten, und sie verschwand bald mit der Metzgerin Irene Widmann und ihrer Tochter Lisa sowie einigen 100 Gramm Aufschnitt im hinteren Teil des Ladenlokals, wo auch noch ein Brot und eine Flasche Goldlikör bereit standen. Lisa lebte auf, denn endlich einmal interessierte sich jemand für ihr Oberstübchen und nicht für ihre Oberweite. Daraus allerdings zu schließen, es seien wertvolle Erkenntnisse aus dem Gespräch erwachsen, wäre zu viel verlangt. Immerhin kam Pascale Meyer mit der Information zurück, Kohler habe Simon Abderhalden öffentlich des Verrats bezichtigt, weil er doch diesen Fun-Park einrichten wollte und vor der Wahl das Gegenteil versprochen hatte.
»Das ist aber kein hinreichendes Mordmotiv«, meinte Bernhard
Weitere Kostenlose Bücher