Feuerwasser
seufzte Leonie.
»Wermut«, sagte Nicole, als sie die Nase über ihr Glas hielt.
Die anderen beiden lachten.
»Artemisia ist der lateinische Name des Wermuts«, erklärte Leonie, die es als Barfrau wissen musste. »Das Getränk darf nun endlich wieder legal hergestellt werden. Jetzt gibt es einen Kampf um das beste Schwarzbrennerrezept aus vergangenen Zeiten.«
Heinrich sog einen erfrischenden Schluck des Absinthes über die Zunge. Er reizte die Geschmacksnerven mit seinen Kräuteraromen und dem leisen Bitterton im Abgang.
Der Detektiv in ihm sagte nur: »Das hier ist die ideale Mischung aus einem rechts- und einem linksdrehenden Wasser!«
Sonntag, 21. September 2008
Am Sonntag, abends um neun, als es gerade eingedunkelt hatte, fuhr der Heilige Geist über Sigriswil. Er kündigte sich trotz des schönen Sommerabends mit einem gewaltigen Donnergrollen an. Es klang derart beängstigend, dass alle Bewohner zumindest die Fenster öffneten und sich bei denen, die draußen standen, nach der Ursache des Geräuschs, das bereits wieder abebbte, erkundigten.
Man hatte schon davon gehört, dass vom Sigriswilgrat manchmal tonnenschwere Felsbrocken auf die darunter liegenden Alpen gestürzt waren, aber dieser Lärm hatte nichts vom Rollen eines Steins, eher von einem wilden Tier, das seinen Unmut in die Gegend hinausbrüllte. Vielleicht war der Drache aus der Beatushöhle zum Leben erwacht, vielleicht musste man den Heiligen wieder zu Hilfe holen.
Dann klang es wie ein unanständiges Rülpsen vom Rothorn herunter, dass manch einer meinte, den Knoblauchgeruch bis in seine Stube hinein wahrzunehmen. Daraufhin lachte jemand, aber so laut, dass es selbst noch in Thun gehört wurde. Die Sigriswiler blickten wie gebannt in Richtung ihres Hausbergs, denn inzwischen war klar, dass alles von dort kam.
Noch einmal vernahm man dieses entsetzliche Geräusch, dann blieb es wenige Sekunden still, schließlich grollte der Berg aus seiner Tiefe heraus. Mit einem entsetzlichen Gurgeln, das den Fels auseinanderzureißen schien, jagte aus seiner Flanke ein grässlicher Feuerball über den Sigriswiler Hügel hinweg und verschwand in der schwefelsauren Luft.
Der Geruch erinnerte an einen alten Vorderlader, der mit Schwarzpulver zum Schießen gebracht wurde. Für einige Dorfbewohner war es hingegen schlicht und einfach der Gestank der Hölle, ausgestoßen von Beelzebubs Hintern, den er ausgerechnet auf das Sigriswiler Rothorn gepflanzt hatte. Später würde man erfahren, dass der Feuerball aus dem Schafloch herausgerast war, und zwar dort, wo die Armee die Seilbahnstation in den Fels hineingehauen hatte. Dabei war die Betonummantelung herausgerissen worden.
Dann flimmerten riesenhafte Bilder auf dem Felsabsturz, dazu ertönten Gesänge, die man in der Gegend noch nie gehört hatte. Zuerst tanzten Elfen und Feen um einen Stein herum, der voller Näpfchen war, gejagt von wilden Kobolden, die ihnen die leichten Schleier von den Hüften reißen wollten. Bevor dies geschehen konnte, rannte ein Säbelzahntiger durchs Bild, und die lieblichen Lieder wurden abgelöst von entsetzlichem Gebrüll. Als das Bild erlosch, hatte man den Eindruck, das Untier hätte sämtliche Fabelwesen verschluckt, so kohlschwarz blieb plötzlich der Himmel.
Inzwischen stand die gesamte Bevölkerung vor ihren Häusern und betrachtete das ungewöhnliche Schauspiel, das manche sogar genießen konnten. Andere hingegen hatte die Furcht gepackt und ließ sie unbeweglich stehen und mit offenen Mündern dem Geschehen folgen. Denn nun flirrte die ganze Luft voller Sternchen in allen Farben. Sie bewegten sich vom Berg auf das Dorf zu und würden es in Kürze schlucken.
Da brach Panik aus. Alles flüchtete in die Häuser, die Tapfersten rannten in die Kneipen, andere öffneten die Zivilschutzbunker, die sie in den Nachkriegsjahren aus Angst vor atomaren Angriffen unter ihren Einfamilienhäuschen gebaut hatten. Nun blieb nur die Frage offen: Wohin mit all dem Krempel, mit dem sie die Unterstände inzwischen vollgestopft hatten. Es musste Platz geschaffen werden, also sah man in der ganzen Gemeinde aus unterschiedlichen unterirdischen Eingängen Waren herausfliegen, dass man hätte meinen können, eine Armee von Wühlmäusen würde den Untergrund aufmischen. Am Montag stritten sich dann Einsatztrupps verschiedener Brockenhäuser um den nicht mehr eingeräumten Inhalt.
Jetzt aber wurde der Lärm des Spektakels übertönt von den Glocken der Kirche, die der Pfarrer läuten ließ
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