Fey 01: Die Felsenwächter
gefolgt war. Mit zunehmendem Alter waren sie alle stattlicher geworden, und ihrer Haut fehlte die jugendliche Geschmeidigkeit. Auf Nye wären sie Führer gewesen. Wahrscheinlich also auch hier. Er hatte Glück.
Mit angehaltenem Atem spähte er in den Raum. Im Mittelpunkt der Unterhaltung stand ein Mann, dessen blondes Haar bereits etwas ausdünnte. Sein Kinn war besonders ausladend. In seinem fleischigen Gesicht gingen seine Augen beinahe unter, und sein Mund spitzte sich zwischen runden Wangen.
Perfekt. Wenn man einmal davon absah, daß er sich hier nicht vorbereiten konnte. Ein Doppelgänger hatte nur einen kurzen Moment zur Verfügung, bis das Blut, das er zum Übergang brauchte, auf seiner Haut trocknete. Er mußte ein Opfer ganz in der Nähe finden.
Er stahl sich zur Eingangstür und schlich hinaus. Das Sonnenlicht schien blendend hell. Er hörte entfernte Rufe, Schreie und Kreischen. Seine Kameraden waren also bereits bei der Arbeit. Er mußte sich beeilen. Schon bald würde sich die Runde dort auflösen, und er verpaßte seine Gelegenheit.
Ein älterer Mann kam aus einer Seitentür des Palastes auf die Baracken zugerannt. Schattengänger schlüpfte ins Dunkle. Als der Mann die Treppe erreicht hatte, packte ihn Schattengänger mit einer raschen Bewegung und zog ihn zwischen die Gebäude.
Der Mann war dürr und knochig, die Haut hing in Falten um sein Gesicht, die bleichen Augen waren vom Schreck geweitet.
»Ich brauche Eure Hilfe, mein Freund«, sagte Schattengänger mit seiner sanftesten Stimme. Der Mann schüttelte den Kopf. Mit der rechten Hand ergriff Schattengänger die Schulter des Mannes und zog mit der linken das Stilett aus der Scheide an seiner Hüfte. Mit einer schnellen, geübten Bewegung stieß er die Klinge in den Hals des Mannes und durchtrennte die Halsschlagader, aus der das Blut wie ein Springbrunnen sprudelte.
Die Augen des Mannes wurden noch größer, seine Haut immer bleicher. Er gestikulierte wild, sank dann auf die Knie und stieß gurgelnde Hilferufe aus. Schattengänger streifte sich die Kleider vom eigenen Körper und stellte sich unter die Blutfontäne wie unter eine Dusche. Er verrieb das Blut auf seinem ganzen Körper, massierte es in seine Haare, bis der Strom langsam versiegte und der alte Mann mit dem Gesicht in den Staub fiel. Dann nahm Schattengänger die Kleider und quetschte auch noch die letzten Blutstropfen heraus.
Er rannte die Stufen hoch und durch die geöffnete Tür. Die Runde löste sich gerade auf. Irgend jemand hatte den Männern offenbar von den Kämpfen am Hafen berichtet. Derjenige, den sich Schattengänger als Opfer ausgesucht hatte, saß immer noch am Tisch und bellte Befehle wie ein kleiner Hund.
Schattengängers Herz pochte gegen seinen Brustkasten. Er hatte es noch niemals im hellen Tageslicht getan, sondern immer die schützende Dunkelheit der Nacht vorgezogen. Glücklicherweise verschwanden alle Männer außer seinem Opfer jetzt durch eine Seitentür, und durch die Vordertür war niemand mehr eingetreten.
Schattengänger wartete, bis es still wurde, bevor er sich vorsichtig im Raum umsah. Das Blut gerann langsam. Er hatte nur noch einen Augenblick Zeit.
Sein Opfer saß mit gerötetem Gesicht allein am Tisch. Von seiner Stirn tropfte der Schweiß, obwohl es in dem Raum nicht heiß war. Offensichtlich war er allein.
Gut.
Schattengänger trat ein. Er wußte, daß der schockierende Anblick seines nackten, blutbedeckten Körpers ihm genügend Zeit ließ, den Raum zu durchqueren.
»Beim Schwerte«, stieß der Mann aus und stand so hastig auf, daß sein Stuhl polternd umfiel. »Wer in des Rocas Namen bist du?«
»Ich bin dein Doppelgänger«, erwiderte Schattengänger, während er zu ihm eilte. Immer noch hielt er das Stilett in der Rechten, aber als er auf den Tisch sprang, ließ er die Klinge scheppernd auf die Teller fallen.
Der Mann wollte zurückweichen, mußte sich jedoch am Tisch festhalten, um nicht über den umgestürzten Stuhl zu stolpern. Schattengänger sprang ihn an wie eine Spinne, umklammerte mit beiden Beinen Oberkörper und Oberarme des Mannes, damit dieser sich nicht bewegen konnte, und drückte die Ellbogen gegen seinen Nacken. Dann stieß er seine Finger in die Augen des Mannes, die Daumen in dessen Mund, schob die Zähne gewaltsam auseinander und preßte die Daumen fest gegen den hinteren Teil der Kehle.
Er zog und zog und zog, bis sich das innerste Wesen des Mannes löste und für einen Augenblick wie ein verängstigtes Kind
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