Fey 01: Die Felsenwächter
Aber der König kam niemals hierher. Er rechnete nicht damit, daß seine Untertanen wilderten, und falls er sie im Verdacht haben sollte, schien es ihn nicht weiter zu kümmern.
Noch niemals war sie so tief in den Wald eingedrungen, ohne ein Tier aufzuschrecken.
Obwohl sie sich erst auf halbem Wege zu Coulters Hütte befand, waren ihre Beine jetzt schon müde. Ihre Verfassung war noch schlechter, als sie angenommen hatte, sie war nicht einmal mehr imstande, eine so kurze Strecke zu laufen, ohne an den Rand der Erschöpfung zu kommen.
Vermutlich rührte ihr Unbehagen nicht nur daher, daß sie alt war. Die Kälte, die sie heute morgen geweckt hatte, saß ihr immer noch in allen Knochen, und sie rieb sich mit den Händen über die dünnen Arme, während sie weiterstapfte.
Als sie die Weggabelung erreichte, waren ihre Röcke naß und schwer. Sie hielt im Laufen inne und ließ sich so schwer gegen einen feuchten Birkenstamm fallen, daß feine Wassertröpfchen herabnieselten. In einiger Entfernung vernahm sie Stimmen. Nachdenklich runzelte sie die Stirn. Sie waren so, gedämpft wie die Stimmen, die sie in der Nacht gehört hatte, und genauso unverständlich. Dann hörte sie einen Mann rufen. Es war Coulter, der jemandem befahl wegzugehen. Seine Worte endeten mit einem unterdrückten Schrei.
Sie hob die Röcke, um zu ihrer eigenen Hütte zurückzueilen, als sie den gellenden Schrei der Frau vernahm. Sie kannte diesen Schrei. Sie selbst hatte so geschrien, als sie Drews leblosen Körper sah, weiß und aufgedunsen vom Flußwasser.
Beim Schwerte, sie konnte sich nicht einfach davonmachen. Es gab keinen Grund, ihre eigene Haut zu retten. Ihr war nichts mehr geblieben. Aber Coulter und seine Frau, Mehan, hatten ein Baby. Sie hatten einen Gemüsegarten, einen Webstuhl und eine kleine Schafherde. Sie waren jung. Sie hatten alles, was Eleanora nicht hatte.
Sie drehte sich um und lief in die Richtung, aus der der Schrei ertönt war. Ihre Beine gaben nach und zwangen sie, langsamer zu laufen, als sie wollte. Ihre Knochen waren zerbrechlich, es reichte aus zu stolpern, um sich etwas zu brechen. Dann würde sie niemandem helfen können.
Als ob sie das in ihrem jetzigen Zustand könnte! Aber vielleicht war alles nicht so schlimm, wie sie jetzt befürchtete. Vielleicht hatte Coulter sich selbst verletzt, und seine Frau war zu jung, um die Lage zu beurteilen.
Mehans Jammern und die Stimmen wurden immer lauter. Eine männliche Stimme übertönte alle anderen, der Mann sprach Nye.
Eleanora war jetzt am Rande der Lichtung angekommen und blieb stehen. Ihr Gesicht war gerötet, sie zitterte. Sie mußte sich an einem Baum festhalten, um nicht niederzusinken.
Vor ihr lag Coulters Hütte. Mindestens ein Dutzend Männer standen im Garten, alle schlank, hochgewachsen und elegant. Sie trugen Hosen und feste Lederhemden von einem ihr unbekannten Schnitt. Alle waren leicht dunkelhäutig, die Gesichter wirkten schön und furchterregend zugleich. Sie standen über Coulters Körper gebeugt, dessen Haut wie ein zerfetztes Gewand an ihm herabhing, während sein Blut in der schlammigen Erde versickerte.
Seine Frau, Mehan, kniete neben ihm. Sie hielt seinen noch unversehrten Kopf und heulte lauthals. Eleanora klammerte sich noch fester an den Baum. Übelkeit schnürte ihr die Kehle zu. Sie zwang sich, ihren Magen durch kurze, gleichmäßige Atemzüge zu beruhigen. Sie konnte sich später um sich selbst kümmern, später, wenn sie wieder allein war. Wenn sie Zeit zum Nachdenken hatte.
Einer der Männer trat jetzt einen Schritt vor und packte Mehans Arm. Seine Stimme war sanft, und Eleanora biß sich überrascht auf die Unterlippe. Das war kein Mann, sondern eine Frau. Eine hochgewachsene Frau in Männerkleidung. Eleanora blickte noch einmal zu den anderen Fremdlingen hinüber und erkannte, daß über die Hälfte von ihnen Frauen waren.
Wieder drehte sich ihr der Magen um, und das karge Frühstück stieg ihr in der Kehle hoch. Sie versuchte, so lautlos wie möglich zu würgen, und zog sich geräuschlos hinter den Baum zurück. Sie hoffte, daß die Fremdlinge sie nicht gehört hatten. Frauen. Frauen nahmen niemals an Kriegen teil. In den Aufständen und Revolten ihrer Kindheit, selbst während des Bauernaufstandes, in dem ihr Vater noch gekämpft hatte, waren die Frauen immer zu Hause geblieben, hatten mit den Verletzten gelitten, aber nie, niemals hatten sie die Waffen gegen ein anderes Lebewesen erhoben. Sie hätte niemals gedacht, daß eine
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