Fey 01: Die Felsenwächter
Sagt ihm, es sei dringend.« Er wandte sich an den Stallburschen, der neben ihm stand. »Du kümmerst dich um die Pferde. Sorge dafür, daß sie gut behandelt werden.«
Sein Herz hämmerte heftig, und er versuchte zu verbergen, daß er vor Aufregung zitterte. Irgend etwas war heute morgen in Jahn geschehen, etwas, das den Rocaan erschreckt und die Daniten mit Entsetzen erfüllt hatte.
Die Wache eilte davon. Die Daniten saßen ab, und Nicholas führte sie durch die Tür – nicht durch die Küche – zum inneren Hof. »Warum ist der Rocaan nicht selbst gekommen?« fragte er.
»Das war eigentlich seine Absicht«, erwiderte der hochgewachsene Danite. »Aber die Ältesten hielten es für zu gefährlich.«
Nicholas runzelte die Stirn. Wie lange wußte der Tabernakel schon von dieser Krise, ohne den König zu benachrichtigen?
Sie gingen durch einen schmalen Flur, dann durch den Festsaal, und schließlich geleitete Nicholas sie zur Tür, die zum Audienzraum des Königs führte.
Vor der Eichentür standen vier Wachtposten. Zwei davon öffneten mit genau choreographierten Bewegungen die Tür, als Nicholas und die beiden Daniten sich näherten.
Der offizielle Audienzraum roch muffig. Sein Vater hatte ihn seit Wochen nicht mehr benutzt. Uralte Speere zierten die Wände, und hinter dem Thronhimmel prangte das Wappen der königlichen Familie: zwei sich vor einem Herz kreuzende Schwerter.
Sein Vater war bereits eingetroffen. Er saß auf dem Thron und trug einen blauen Mantel, den er sonst nur beim familiären Frühstück zu tragen pflegte. Wie stumme Wächter standen zwei seiner Berater, Lord Stowe und Lord Powell, neben ihm. Sie waren noch unrasiert, und Lord Powells Pferdeschwanz saß etwas schief. Nicholas’ Vater sah zumindest glattrasiert aus.
»Aus welchem Anlaß wird mein Tagesablauf unterbrochen?« erkundigte sich der König.
Noch während die Daniten sich verbeugten, trat Nicholas vor. »Gerade sind diese Männer vom Tabernakel zu uns gekommen. Sie berichten, im Hafen seien fremde Schiffe gelandet, und durch unsere Straßen gehen fremde Leute.«
»Wie viele Schiffe?« fragte sein Vater.
Der rundliche Danite trat vor. »Der Rocaan konnte nicht genau sagen, wie viele, Sire. Er hat sie noch vor der Morgendämmerung in Regen und Dunkelheit gesehen. Als die Sonne aufging, waren die Schiffe verschwunden.«
»Warum ist er dann nicht gekommen, um es mir selbst zu sagen?« fragte Nicholas’ Vater und beugte sich mit gerunzelter Stirn, die Ellbogen auf die Knie gestützt, vor.
»Weil das noch nicht alles ist, Sire. In unseren Straßen sind Fremde, überall sind Schreie und lautes Gebrüll zu hören. Wir sahen eine Frau, die behauptete, der Teufel sei ihr auf den Fersen. Wir sahen das Blut in Bächen aus Türen und Hoftoren rinnen.« Während er sprach, warf der hochgewachsene Danite einen raschen Seitenblick auf Nicholas, als hätte er diese letzte Einzelheit vor einem Jungen lieber vermieden. Nicholas versteifte den Rücken und reckte die Brust. Er war kein Kind mehr. Hatte er nicht ebenso vernünftig reagiert wie sein Vater?
»Die Ältesten hielten es für unklug, einen hohen Würdenträger durch die Stadt zu schicken, deswegen fiel die Wahl auf uns.« Der rundliche Danite sagte es ohne Verärgerung, als wüßte er, wie unbedeutend ihre Existenz war. »Der Rocaan glaubt, daß eine Invasion auf unserer Insel stattfindet. Er glaubt, daß wir schnell handeln müssen, wenn wir nicht untergehen wollen.«
Nicholas verschlug es den Atem. Lord Stowe umklammerte die Lehne des Throns. Nicholas’ Vater war bleich geworden. »Eine Invasion?« wiederholte er, als habe er das Wort nicht recht verstanden. »Aber … niemand kann die Blaue Insel erreichen. Die Felsenwächter beschützen uns, und seit Nye erobert wurde, haben wir keine Karte mehr anfertigen lassen.«
Plötzlich huschte ein Ausdruck des Entsetzens über sein Gesicht, bevor sich seine maskenhafte Miene wieder verschloß. Bei diesem Anblick überlief es Nicholas eiskalt.
»Weiß der Rocaan, woher die Schiffe kommen?« fragte sein Vater.
»Nein, Sire«, erwiderte der lange Danite. »Er ist nicht sicher. Er hat jedoch einen Verdacht.«
»Die Fey«, sagte Nicholas’ Vater, seine eigene Frage beantwortend. »Sie sind gerissener, als wir dachten.«
9
Die Sonne brannte warm auf seiner Haut. Seit die Flotte von Nye ausgelaufen war, fror Schattengänger. Vor den anderen schrieb er dies dem Wind auf See zu, aber insgeheim wußte er, daß ihn fror, weil er
Weitere Kostenlose Bücher