Fey 01: Die Felsenwächter
Frau dazu fähig wäre.
Sie riß ein Blatt von einem Busch und wischte sich über den Mund. Ihr war schwindlig. Jedesmal, wenn sie die Augen schloß, sah sie Coulters gemarterten Körper vor sich. Wenn sie nicht still war, stand ihr dasselbe Ende bevor. Vielleicht auch dann, wenn sie sich ruhig verhielt.
Sie spähte um den Baum herum. Einige der Fremden zeigten in ihre Richtung, aber die Anführerin schüttelte den Kopf. Die Fremden führten jetzt eine aufgeregte Diskussion in ihrer kehligen Sprache, die sie nicht verstand, und diese Diskussion betraf sie.
Eleanora wartete, bis alle den Blick abwandten, und zog sich dann tiefer ins Gebüsch zurück. Die Jahre im Wald hatten sie Lautlosigkeit gelehrt. Sie konnte sich bewegen, ohne einen noch so kleinen Zweig zu zerbrechen oder die Äste eines Busches zu berühren. Eine Fähigkeit, die sie ebenfalls Drew verdankte. Sie dankte ihm schweigend.
Mehan hatte die Hände auf den Körper ihres Mannes gelegt und schluchzte haltlos. Wieder und wieder rief sie seinen Namen, als könnte sie ihn dadurch zum Leben erwecken. Die Frau, die sie am Haar festhielt, zog daran, und Mehans Kopf wurde mit einem Ruck zurückgerissen. Die Fremdlinge setzten ihr Streitgespräch fort, und schließlich trat einer von ihnen, kleiner gewachsen und mit schrofferen Gesichtszügen, die flacher und kürzer wirkten, vor. Er trug braune Kleidung, und sein Gesicht war blutbeschmiert.
Die Frau, die Mehan festhielt, sagte etwas zu ihm, und er kicherte. Dann fuhr die Frau mit ihren Händen über Mehans Arm, und Mehan schrie, als sich ihre Haut löste. Der kleine Mann fing die Haut wie eine besondere Leckerei auf und stopfte sie in einen großen Beutel an seinem Gürtel.
Schockiert und fasziniert zugleich sah Eleanora zu. Sie verfügten über besondere Kräfte. Die Frau trug keine Waffen, und doch hatte sie die Haut von Mehans Knochen wie mit einem Schälmesser abgezogen. Offensichtlich hatten sie die Hütte bis jetzt noch nicht betreten, aber sobald sie es taten, würden sie das Baby finden, und das arme unschuldige Wesen mußte ebenso langsam und qualvoll sterben wie seine Eltern.
Eleanora konnte nichts für Mehan tun. Sie war nur eine alte Frau, die kaum noch die Kraft aufbrachte, durch den Wald zu gehen. Aber vielleicht konnte sie wenigstens dem Kind helfen, sei es auch nur für kurze Zeit, bis der erste Blutdurst der Fremdlinge gestillt war.
Viel Zeit blieb ihr nicht. Mehans Schreie retteten vielleicht ihr Kind. Eleanora hastete durch den Wald zum Hintereingang der Hütte. Coulters Hütte war groß genug für drei Räume, und im vorletzten Frühjahr hatte er sich sogar den Luxus einer zweiten Eingangstür geleistet. Er hatte sie eingebaut, um auf diese Weise im Sommer die heiße Küche zu lüften, ohne zu ahnen, daß er dadurch vielleicht das Leben seines Kindes rettete.
Das hoffte Eleanora jedenfalls.
Sie betete so hingebungsvoll wie noch nie zuvor und schloß einen Pakt mit Gott. Sie hatte noch niemals besonders tief an Gott geglaubt, denn sie hatte in ihrem langen Leben zu viel gesehen, um die Versprechungen der Geschriebenen und Ungeschriebenen Worte für etwas anderes zu halten als einen winzigen Hoffnungsschimmer, aber genau diese Hoffnung brauchte sie jetzt. Sie brauchte jede Hilfe, die sie bekommen konnte.
Mehans Schreie waren langgezogen und gräßlich. Die Schreie ihres Mannes hatten sich anders angehört. Wozu war eine solche Folter gut, wenn das Opfer ohnehin starb? Empfanden diese Fremden etwa eine perverse Lust daran? Oder wußten sie, daß Eleanora zuhörte? Sollte dies eine Art Lektion sein, die sie ihr erteilten?
Der Platz hinter der Küche war dunkel, die Sonnenstrahlen drangen erst am Nachmittag bis hierhin vor. Immer noch herrschte kühle, morgendliche Feuchte. Die Fremden waren noch nicht hier gewesen, auf dem Schlamm waren keine Fußspuren zu sehen. Eleanora verfluchte den Schlamm. Sobald die Fremden die Hintertür entdeckten, würden sie auch ihre Fußspuren sehen und konnten sie durch den Wald verfolgen.
Doch auch dafür würde ihr ein Ausweg einfallen.
Sie schob das Problem erst einmal beiseite und konzentrierte sich auf die Hütte. Mehans Schreie waren in ein Stöhnen übergegangen, das in seiner Passivität noch furchtbarer klang. Das Leben wich langsam aus ihr, aber sie wurde nicht ohnmächtig.
Eleanora ging durch den Schlamm und legte sich dabei einen Plan zurecht. Es war ein armseliger Plan, aber immerhin ein Anfang.
Sie stieß die Tür auf und betrat die
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