Fey 02: Das Schattenportal
hätte sein sollen. Keine Beutel, keine Ausrüstung, kein Blut. Seit fast einer Woche schon war er sauber – länger als jemals zuvor, seitdem er erwachsen war.
Auf der Straße war alles ruhig. Die Bäume neigten sich darüber wie ein Baldachin, und im Schatten war es angenehm kühl. Das Sonnenlicht drang nur an vereinzelten Stellen durch das Blätterdach. Über ihm zwitscherten die Vögel, und hin und wieder knackte es im Unterholz. Trotzdem konzentrierte er sich auf jedes einzelne Geräusch. Er hatte keine Lust, als vereinzelter Fey, der arglos außerhalb von Jahn die Straße entlangspazierte, gefangengenommen zu werden. Andererseits konnte er auch nicht rasch zu den Seinen zurückeilen, wie es der Inselkönig von ihm verlangt hatte. Er mußte nachdenken.
Eine ganze Woche lang hatte er sich unwohl gefühlt. Er war eine wichtige Persönlichkeit gewesen, jemand, mit dem sich der König oft und lange unterhielt. Des Nachts, wenn der König gegangen war und nur noch die Wachen zurückblieben, träumte Fledderer von seinen Leuten: Caseo, der ihn mit dem Tode bedrohte, Rugar, der einfach durch ihn hindurchsah, Solanda, die ihn einen Troll nannte. Sie hatten keine Ahnung, wie wichtig er sein konnte. Nur weil er nicht über die Befähigung zur Magie verfügte, hieß das noch lange nicht, daß er keinerlei Intelligenz besaß.
Und jetzt war er mehr denn je auf diese Intelligenz angewiesen, wenn er seine Abwesenheit glaubhaft erklären wollte, insbesondere, da einige der anderen Rotkappen ihn mit den Inselbewohnern hatten kämpfen sehen. Wenn er sagte, sie hätten ihn gefangengehalten, würde er sterben. Freigelassene Gefangene wurden nicht mit offenen Armen empfangen; sie wurden als potentielle Spione getötet. Es spielte keine Rolle, daß die Inselbewohner nicht klug genug waren, um selbst daran zu denken. Die Fey waren es, und das reichte.
Er brauchte eine Geschichte, und zwar eine sehr gute. Außerdem mußte sie so nah wie möglich an der Wahrheit liegen, denn er war kein besonders guter Lügner.
Sein Fuß streifte einen Stein, und er wäre beinahe gestolpert, streckte einen Arm aus, um die Balance zu halten, und ging weiter. Es gab nur eine Möglichkeit: Er mußte sagen, er sei aus Angst vor Caseo davongelaufen, daß er zwei Inselbewohner im Wald angetroffen habe … nein, das durfte er nicht sagen. Denn wenn er sie getötet hatte – wo war dann ihre Haut? Und wenn er sie nicht getötet hatte, stand er wieder vor dem ersten Problem. Jeder mußte annehmen, daß er gefangengenommen und umgedreht worden sei. Es brauchte nicht viel, um sie gegen ihn aufzubringen. Er war für sie so gut wie nichts wert.
Der große Baum, der zur Lichtung führte, stand nicht weit entfernt vor ihm. Er würde sagen, er sei vor Caseo davongelaufen, aber sonst nichts. Falls ihn jemand mit den Inselleuten gesehen hatte, mußte er sich etwas ausdenken, aber je weniger er sagte, desto besser. Außerdem mußte es nicht sehr lange halten. Sobald er Rugar getötet hatte, kümmerte es keinen mehr, wo er gewesen war. Dann würden alle nur noch an sich selbst denken.
Neben dem Baum blieb er stehen und atmete durch. Ja, er mußte sich noch überlegen, wie er Rugar töten wollte. Der Gedanke daran verfolgte ihn, seit der König ihn ausgesprochen hatte. Rugar war ein Anführer, ein Visionär. Er war ständig von Wachen umgeben.
Außer im Schattenland.
Aber auch dort war ständig seine Tochter um ihn, und Fledderer hatte Angst vor Jewel. Er hatte sie in der Schlacht gesehen. Sie war wild. Er wollte ihr nicht zwischen die Finger geraten.
Das war das Problem bei der ganzen Sache: erwischt zu werden. Er konnte Rugar töten. Es war nicht schwer, einen Fey zu töten. Sie bluteten wie andere auch. Das Problem bestand darin, die Mächtigen nicht wissen zu lassen, daß man es auf sie abgesehen hatte, damit sie nicht zuerst losschlugen.
Fledderer betrat die Lichtung und stellte sich innerlich auf den Leichengeruch ein. Doch die Luft war frisch, und abgesehen von ein paar Blutflecken und Schleifspuren auf dem Boden gab es kein Anzeichen dafür, daß hier ein Kampf stattgefunden hatte. Sie hatten in seiner Abwesenheit alles saubergemacht.
Ein kleiner Trampelpfad führte zu dem Erdring, der den Torkreis markierte. Hier hatte in letzter Zeit ein reges Kommen und Gehen geherrscht. Gerade als er den Erdring überschreiten wollte, hörte er Stimmen.
»… weiß auch nicht, warum er Knochen haben will.«
»Und alle zerbrochen. Mir wär’s lieber, wir könnten
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