Fey 02: Das Schattenportal
dieses Treffen nachgedacht. Sie hatten das Kirchenoberhaupt getötet, und sie hatten nach wie vor den Schwarzen König als ständige Drohung am Horizont. Sie waren nicht völlig machtlos.
Oder kam es ihr nur so vor?
Der Schlüssel lag darin, hätte ihr ihr Großvater geraten, so zu tun, als hielten sie noch alle Macht in Händen. Doch sie wußte nur zu genau, daß die Inselbewohner die Fey weiterhin dezimieren konnten, bis am Ende keiner von ihnen mehr übrig war. Sie mußte darauf bauen, daß die Inselbewohner das nicht wußten. Sie mußte sich Zeit erkaufen. Sie mußte ein Angebot machen, das eines Tages zugunsten der Fey umschlagen würde.
Ihr Vater trat neben sie. Jewel wandte sich halb von ihm ab. Er würde sich neben sie setzen, und sobald er etwas sagte, würde sie ihn unterbrechen. Sie würde ihm vor den Inselbewohnern das Wort abschneiden. Eigentlich hätte sie einen Hüter an ihrer anderen Seite haben müssen, doch sie brauchte jemanden, dem sie vertrauen konnte.
Sie brauchte Burden.
Schon nach der Ersten Schlacht um Jahn hätte sie auf ihn hören sollen. Er hatte behauptet, ihr Vater sei blind. Sie hätte auf ihn hören sollen.
Auf dem Hügel auf der gegenüberliegenden Seite der Mulde standen Nicholas, der König und ein Ratgeber. Wie zuvor abgesprochen, gingen die Wachen der Fey im gleichen Moment den steinigen Abhang zu dem flachen Stück hinunter wie die Wachen der Inselbewohner auf der anderen Seite. Sie brachten ein paar Schwarzkittel mit, wahrscheinlich weil sie wußten, daß die Vertreter der Kirche den Fey mehr Angst einjagten als alles andere.
Damit hatten sie recht.
Als die Wachen sich an den vorher genau bestimmten Stellen aufgebaut hatten, machten sich Jewel, ihr Vater und Burden auf den Weg hinunter. Jewel sah, daß Nicholas, der König und der andere Ratgeber mit ihnen Schritt hielten. Sie kamen gleichzeitig auf der Steinplatte an. So viele Einzelheiten, so viele heikle Verhandlungen, bevor dieses Treffen überhaupt stattfinden konnte. Gemeinsam überquerten sie den Fels, erreichten den Tisch, zogen die Stühle zurück und ließen sich mit der Selbstverständlichkeit von Leuten nieder, die an bestimmte Rituale gewöhnt sind.
Der Wind war in der Mulde nicht so heftig, obwohl die Gischt hier einen feinen Nebel bildete, der alles mit Feuchtigkeit überzog. Jewel strich die losen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Nicholas sah sie mit dem gleichen faszinierten Blick an, den sie in Erinnerung behalten hatte. In dem Jahr, seit sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte, war sein Gesicht schmal geworden, beinahe wie bei einem Fey, und um seinen Mund zeigten sich erste feine Linien. Er sah nicht mehr wie ein grüner Junge aus, sondern eher wie der Mann, der sie in ihrer Vision mit ungewöhnlicher Zärtlichkeit in seinen Armen hielt.
Sie hoffte, daß das heutige Treffen diese Vision veränderte.
Nicholas saß zur Rechten seines Vaters, Jewels Vater gegenüber. Burden und der Ratgeber der Inselbewohner saßen rechts von Jewel, Jewel und der König der Insel saßen in der Mitte.
Jewel schluckte. Sie begrüßte sie alle mit einem Nicken und eröffnete dann die Zusammenkunft, da sie diejenige war, die sie einberufen hatte.
»Mein Name ist Jewel«, sagte sie in der Sprache der drei Inselbewohner, die ihr gegenübersaßen. Auch in ihren eigenen Ohren hörten sich die Worte gestelzt an. Adrian hatte ihr die folgenden Worte oft und unerbittlich korrekt beigebracht: »Ich bin die Enkelin des Schwarzen Königs. Mein Vater, Rugar, ist derjenige, der sich mit Eurem Rocaan am Blumenfluß getroffen hat. Auch mein Ratgeber Burden nimmt heute an unserem Treffen teil. Ich werde für die Fey sprechen. Ich wäre dankbar dafür, wenn wir, nachdem die Formalitäten erledigt sind, zu Nye umwechseln könnten, denn meine Kenntnisse der Inselsprache sind sehr begrenzt.«
»Es ist schön«, sagte der König auf Nye und somit ihrem Wunsch bereits entsprechend, »daß wir erfahren, wer Ihr seid. Neben mir sitzen mein Sohn Nicholas und mein Ratgeber, Lord Stowe. Ich werde die Belange der Blauen Insel vertreten.«
Jewel quittierte sein Entgegenkommen mit einem Nicken. »Ich habe diese Zusammenkunft einberufen, weil ich glaube, daß es in unser aller Interesse liegt, einen Waffenstillstand auszuhandeln.«
»Ich dachte, die Fey verhandeln nicht«, erwiderte der König.
Rugar wollte ihm etwas entgegnen, doch Jewel drückte seinen Oberschenkel. Sie grub ihm die Finger so tief ins Bein, daß er sie mit Gewalt lösen mußte.
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