Fey 02: Das Schattenportal
hatte, daß der Vater Nicholas’ Loyalität hatte überprüfen lassen. Doch trotz dieser Befürchtungen war sein Vater viele Male mit ihm allein gewesen. Seine Überprüfung war nach dem tragischen Vorfall mit Stephan erfolgt, weil, wie sein Vater einräumte, die Möglichkeit bestand, daß Nicholas sich Stephan gegenüber loyal verhielt. Trotzdem machte Nicholas immer noch Spuren der Angst und der Erleichterung in der Stimme seines Vaters aus und begriff sehr wohl, was ihn diese Prüfungen gekostet hatten.
Der Rocaan legte die Hände auf den Rücken und betrachtete Nicholas eindringlich. Matthias wollte etwas sagen, doch der Rocaan warf ihm einen Blick zu, der ihn sofort verstummen ließ. Nicholas gefiel dieser forschende Blick ganz und gar nicht. Er verschränkte die Arme vor der Brust und sah den Rocaan seinerseits an.
Schließlich nickte der Rocaan. »Eigentlich habt Ihr recht, Euer Hoheit. Ich habe mich meinen Erwartungen hingegeben. Ich bin nicht mehr so flexibel wie früher einmal, schon gar nicht in Krisensituationen.«
Nicholas lächelte. »Ich verstehe Euch sehr wohl, Heiliger Herr. Die Zeiten sind für uns alle sehr schwer. Aber Ihr erwähntet eine dringliche Angelegenheit. Wäre es wohl möglich, irgendwo Platz zu nehmen und darüber zu reden?«
Matthias starrte Nicholas an, als sehe er ihn zum ersten Mal. Gut. Früher hatte Matthias in ihm immer nur den säumigen Schüler gesehen. Es war an der Zeit, daß auch Matthias erfuhr, daß Nicholas ein Mann war, der, sollte es soweit sein, durchaus in der Lage sein würde, die Blaue Insel zu regieren.
»Richtig«, sagte der Rocaan. »Wir sollten es uns ein wenig bequemer machen, auch wenn ich diesen Raum hier ziemlich kalt finde. Porciluna, machst du freundlicherweise Feuer für uns? Ich denke, wir sollten uns in die Nähe des Erkers setzen. In letzter Zeit finde ich mehr und mehr Trost in der Aufnahme des Roca.«
Matthias huschte eilfertig um den Rocaan herum und zog Stühle herbei, damit sie sich im Erker niederlassen konnten. Der Rocaan setzte sich direkt vor die Glasscheibe mit dem Roca. Vom Fenster her ergoß sich Licht auf seinen Stuhl und tauchte das Kirchenoberhaupt in ein warmes Leuchten. Er wirkte jünger als noch wenige Minuten zuvor.
Der Rocaan klopfte auf den Stuhl neben sich und forderte Nicholas damit auf, sich zu setzen. Matthias nahm den Stuhl zur Linken und überließ Porciluna einen weiter entfernten Stuhl. Porciluna beugte sich immer noch über den Kaminrost und mühte sich mit dem Feuer ab, als hätte er schon seit Jahren keines mehr entfacht. Nach jedem Handgriff wischte er sich die Finger an einem Tuch ab, das er aus seinem Gewand gezogen hatte. Das Tuch war schon ganz schwarz vor Asche.
Nicholas nahm Platz. Aus der Nähe war der Geruch nach Mottenkugeln und alternder Haut noch intensiver. Auf den Augenlidern des Rocaan klebte Schlafsekret, und auf seinem glattgebügelten Talar war an einer Ecke ein speckiger Fleck zu sehen. Seine Hände waren nicht weniger faltig als sein Gesicht, Leberflecken besprenkelten die Haut wie Sommersprossen.
Bis zu diesem Augenblick war sich Nicholas nicht darüber im klaren gewesen, wie alt und gebrechlich der Mann wirklich war.
Der Rocaan streckte die Hand aus und tätschelte Nicholas’ Hand, als wolle er sich versichern, daß der Junge in Fleisch und Blut neben ihm saß. Noch nie zuvor war Nicholas in der Verlegenheit gewesen, unter Druck eine Beziehung aufzubauen. Jetzt erst begriff er, wie schwierig derartiges Vertrauen war.
»Ich möchte Euch nicht zu nahe treten, Euer Hoheit«, sagte der Rocaan, »aber würde es Euch etwas ausmachen, wenn ich Euch vor unserem Gespräch segnete?«
Ein Segen war eine große Ehre, die normalerweise besonderen Gelegenheiten vorbehalten blieb: Hochzeiten, Krönungen oder Begräbnissen. Dazu gehörte jedoch auch die Berührung seiner Stirn mit einem in Weihwasser getauchten Zeremonienschwert. Eine gute Vorsichtsmaßnahme für sie beide.
»Ich fühle mich geehrt, Euren Segen empfangen zu dürfen, Heiliger Herr«, antwortete Nicholas. »Wie möchtet Ihr vorgehen?«
Der Rocaan nahm die Kette, an der das silberne Schwert hing, vom Hals. Dann zog er aus einer Tasche seiner Robe ein mit Wasser gefülltes Glasfläschchen und aus einer anderen ein kleines Stück Tuch. Er mußte das alles geplant haben, sobald er erfahren hatte, daß Nicholas kommen würde. Ganz gewiß hätte er dergleichen vom König nicht verlangt.
Der Rocaan goß die Hälfte des Wassers aus dem
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