Fey 02: Das Schattenportal
seiner Robe hinter sich herziehend, ging der Rocaan auf die Tür zu. Er legte die Hand auf den Knauf und drehte sich zu Nicholas um. »Ich glaube, Euer Hoheit, wir vergessen, daß der Roca, in all seiner Weisheit, gelobt hat, uns zu beschützen. Wir müssen nur herausfinden, wie dieser Schutz funktioniert.« Er lächelte. Seine Züge wirkten im vergehenden Licht des Tages sanft. »Uns wird nichts geschehen. Ich weiß es.«
6
Als Solanda am Ende des Pfades angelangt war, fühlte sie sich müde und durstig. Sie war der Stimme gefolgt, einem leisen Befehl in ihrem Hinterkopf, bis der Pfad nach etlichen Meilen an einem Flüßchen entlangführte. An seinem Saum wuchsen Gänseblümchen, große weiße Blumen ohne jeden Geruch. Noch nie zuvor hatte sie so viele auf einem Fleck gesehen. Sie versteckten sich im Gras und besprenkelten das ganze Flußufer mit weißen Tupfen. Sie spazierte zwischen ihnen umher, vorbei an einem großen Baum, der mitten auf dem Pfad stand, und kam auf eine Lichtung.
Sie keuchte vor Durst, und ihre Zunge lugte ein Stück zwischen den Lippen hervor. Da sie nicht sicher war, ob das Wasser genießbar war, ging sie weiter. Als sie das Gestrüpp erreichte, das den Wald von der Lichtung trennte, steckte sie den Kopf durch die Zweige und sah sich um.
Dort standen mehrere im Halbkreis aufgebaute Hütten. Nur wenige waren so schön wie die verlassene, die sie zuvor gesehen hatte. Kinder spielten rings um den Stamm einer Eiche, die so groß war, daß die Fey sie als Versammlungsort auserwählt hätten. Fünf Jungen und drei Mädchen unterschiedlichen Alters tanzten im Kreis herum, sangen und klatschten in die Hände.
Solanda setzte sich auf den Boden. Die Worte des Liedes klangen unsinnig, doch sie war sich nicht ganz sicher. Der Tanz war ihr vertraut – sie hatte gesehen, wie ältere Fey damit einen Erdring anlegten, von dem aus sie ein Portal in die Schattenlande öffneten. Wie eigenartig, daß kleine Kinder so weit von Jahn entfernt den gleichen Tanz gelernt hatten.
Vielleicht war es auch nicht so eigenartig. Wahrscheinlich kamen alle Lebewesen, die aufrecht gingen, früher oder später darauf, sich an den Händen zu fassen und im Kreis zu tanzen. Der Unterschied lag darin, daß sie hier nicht verstand, was sie sangen. Dabei waren höchstwahrscheinlich die Worte für die Magie verantwortlich.
Nicht weit von einem der Häuser entfernt stand eine Frau mit einem auf die Hüften gestützten Wäschekorb. Ihre Brüste waren von einer kürzlichen Schwangerschaft vergrößert; sie roch nach Milch. Doch es war nicht der Säuglingsgeruch, dem Solanda folgte. Die Frau beobachtete die Kinder mit der Wachsamkeit, die nur Eltern entwickelten. Aus der Ferne drang das rhythmische Rufen von Männerstimmen herüber, als seien sie bei der Arbeit. Der Wind trug den Duft von Schweiß, Kindern und frischem Fisch herüber.
Sofort lief Solanda das Wasser im Mund zusammen. Sie hatte schon sehr lange nichts mehr gegessen. Die Stimme in ihrem Kopf war verstummt, so wie zuvor in dem Haus. Sie hatte einen Ort gefunden, der für sie bestimmt war.
Am besten, sie ging auf die Frau zu. Die Frauen auf dieser Insel schienen eine besondere Zuneigung zu Katzen zu haben, als fühlten sie sich von der Eleganz und dem Stolz dieses Tieres angesprochen. Bei den Frauen auf der Insel selbst hatte Solanda nur wenig Eleganz und Freiheit feststellen können.
Solanda verließ die Lichtung, bedacht darauf, sich dabei an ein paar alten Blättern zu reiben. Das Gras unter ihren Pfoten war weich; in diesem Teil der Insel mußte man sich keine Sorgen wegen zuviel Trockenheit machen. Im Gegenteil, hier war es eher etwas sumpfig. Jede Wette, daß der Fluß mindestens einmal im Jahr über die Ufer trat.
Die Kinder tanzten weiter. Auch aus der Nähe wurden ihre Worte nicht verständlicher, und die Melodie blieb unvertraut. Die Frau seufzte und lächelte, stemmte eine Hand in die andere Hüfte. Es sah aus, als wolle sie eines der Kinder vom Spielen wegrufen, könne sich aber nicht überwinden, die Gruppe aufzulösen.
Solanda befürchtete schon, die Frau würde gehen, bevor sie sie auf sich aufmerksam machen konnte.
Jetzt trat aus dem zweiten Haus eine andere Frau. Sie war älter, mit loser, faltiger Haut, die vom Alter und von schlechter Ernährung herrührte. Ihre Kleider waren aber sauber und gepflegt, auch wenn hier und da ein geflickter Riß zu sehen war. Und sie roch, eigenartigerweise, nach Säugling.
Nach einem vertrauten
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