Fey 02: Das Schattenportal
Risiko, mit dem kleinen Mann zusammenzuarbeiten. Doch Alexander war bereit, dieses Risiko, wenn nötig, einzugehen. Es war genau die Chance, deren sie so dringend bedurften.
20
Das Kind schrie und zappelte. Zweimal schon hatte es mit seinen kleinen Füßen Solanda in die Rippen getreten. Sie war froh, den Jungen in der Nacht mitgenommen zu haben, so hatte er wenigstens keine Schuhe an. Mit Schuhen hätte er sie wahrscheinlich verletzt.
Sie befand sich auf dem Pfad außerhalb des Schattenlands. Am Horizont kündigte sich der neue Tag an, doch der sich bereits rosig färbende Himmel war durch das Laub kaum zu sehen. Unterwegs im Wald hatte sie ihre Verfolger abgeschüttelt, denn sie bewegte sich geräuschloser fort als sie, auch wenn sie sich nicht in ihre Katzengestalt zurückverwandeln konnte. Nur das Kind hätte sie einige Male beinahe wieder auf ihre Spur gebracht. Dann hatte sie sein Gesicht nach dem ersten kurzen Schrei gegen ihr Schlüsselbein gedrückt. Der Schmerz mußte den Jungen betäubt haben – ihr selbst hatte es höllisch weh getan –, denn danach hatte er nicht wieder geschrien. Er rührte sich so lange nicht mehr, daß sie schon befürchtete, ihn ernsthaft verletzt zu haben.
Wäre die alte Frau doch nur ein paar Sekunden später gekommen! Sie hätte dem Kind rasch ein paar Kleider übergestreift, sich eine Decke geschnappt und für sich selbst etwas Kleidung zusammengesucht. So hatte sie die Hütte in ihrer Katzengestalt verlassen müssen, und erst nachdem sie sich zurückverwandelt hatte, war ihr aufgefallen, daß sie das Nachthemd irgendwo in diesem ärmlichen Haus zurückgelassen hatte.
Ihre Nacktheit machte ihr jedoch weniger Gedanken als das Jammern des Kindes, das sie wohl noch bis in ihre Träume verfolgen würde. Sie hätte die alte Frau besser umgebracht, als sie Zeugin der Entführung des Kindes werden zu lassen. Aber dazu hatte Solanda nicht genug Zeit gehabt. Die Schreie hatten die anderen alarmiert, und beinahe wäre sie erwischt worden.
Solandas Atem ging in kurzen Stößen, und kurz vor der Weggabelung hatte sie Seitenstechen bekommen. Der Junge hatte gerade wieder zu strampeln angefangen, als käme er auf seinen eigenen, unsicheren Beinchen besser durch den Wald als auf ihren Armen, und sie hatte ihn fester an sich drücken müssen, als sie eigentlich wollte. Hoffentlich hatte sie ihm keine blauen Flecken zugefügt; die Domestiken würden sie dafür rügen. Dabei war sie niemals dafür ausersehen worden, Kinder zu tragen oder andere Mutterpflichten zu erfüllen, und die Tatsache, daß die Mächte ihr dieses Kind anvertraut hatten, ging ihr allmählich gegen den Strich.
Trotzdem mußte sie der Magie folgen.
Sie blieb stehen und rang nach Luft. Der Wind war frostig, und bis auf die Stelle, an der sie das Kind an ihrem Körper hielt, war sie eiskalt. Auch der Junge zitterte, doch sie hielt die Arme fest um ihn geschlungen. Sie hatte sogar kurzzeitig versucht, seine winzigen Füße in einer Handfläche zu bergen, doch er hatte sich in ihrem Griff gewunden und versucht, sich von ihr abzustoßen, so daß sie davon abgesehen hatte.
Der Junge stieß sie mit den Fäusten von sich, bis sich sein Oberkörper von ihr abspreizte. Er sah ihr ins Gesicht, das frühe Morgenlicht lag auf seinen kleinen Zügen. Sie hatte nicht gewußt, daß ein so kleines Wesen bereits Zorn verspüren konnte, doch sein Gesichtsausdruck ließ sich nicht anders interpretieren. Seine Stirn war gerunzelt, seine Lippen waren geschürzt, und die kleinen Augen funkelten sie wütend an. Hätte ihm mehr als sein Kleinkindgeplapper zur Verfügung gestanden, er hätte ihr befohlen, sie augenblicklich zu der alten Frau zurückzubringen.
Solanda war fast soweit, das auch zu tun. Noch nie zuvor war es Teil ihrer Aufgabe gewesen, zuzusehen, wie ein anderer litt. Normalerweise spionierte sie rasch etwas aus oder ließ die anderen wissen, wie die Pläne der Anführer lauteten. Sie ging immer dorthin, wo kein anderer Fey hinkonnte, führte Familien, Regenten oder Soldaten hinters Licht. Sie sahen immer nur das niedliche Tierchen in ihr und zeigten nicht den geringsten Argwohn. Und dann verließ sie sie wieder, ohne die geringste Blutspur.
»Mama!« Der kleine Junge sprach das Wort klar und deutlich in der Sprache der Inselbewohner aus. Es war eindeutig ein Befehl, keine Frage. Er wußte, daß die alte Frau seine Mutter war, und wollte wieder zurück zu ihr.
»Nein«, erwiderte Solanda in der gleichen Sprache.
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