Fey 02: Das Schattenportal
»Du kommst mit mir.«
»Nein!« schrie der kleine Junge und schlug mit den Fäustchen auf sie ein. Sie trafen ihr Brustbein und fügten ihr gehörige Schmerzen zu. Solanda hatte nicht gewußt, daß Kleinkinder so stark sein konnten.
Sie packte seine Fäuste mit der freien Hand und preßte sie gegen seine eigene Brust. »Nein«, wiederholte sie und zog ihn wieder an sich, diesmal ein wenig sanfter als zuvor.
Dann atmete sie noch einmal tief durch und verließ den Pfad. Je früher sie diesen kleinen Quälgeist los wurde, um so besser.
Das Gras unter ihren Füßen war naß. Sie erschauerte. Sie sehnte sich nach nichts mehr als nach Wärme und Trockenheit. Sie tänzelte durch die Halme und bewegte sich dabei mit der Leichtigkeit und Eleganz, die ihr als Katze eigen war. Der Junge schien ihre merkwürdigen Bewegungen sofort zu registrieren; er hörte auf zu zappeln und hielt sich an ihr fest, als hätte er Angst, sie würde ihn fallen lassen.
Als sie sich dem Schattenland näherten, mischte sich der Geruch faulenden Fleisches in die frische Luft. Das Kind nieste und drückte das Gesicht an ihre Haut. Sie rümpfte die Nase. Sie hatte gehofft, die Rotkappen hätten ihre Arbeit inzwischen beendet.
Den Erdring fand sie so vor, wie sie es erwartet hatte. In seiner Umgebung war niemand zu sehen. Wahrscheinlich arbeiteten die Rotkappen weiter unten am Fluß. Die winzigen Lichter, die das kreisförmige Tor markierten, waren im heller werdenden Licht des Tages kaum zu sehen.
Beim Betreten der Lichtung hielt Solanda den Atem an. Ein Reh äste nicht weit von ihr unter einem Baum. Als es sie erblickte, zuckte es zusammen und sprang mit dumpf auf den Waldboden trommelnden Hufen ins Unterholz. Das Kind hielt sich noch panischer an ihr fest. Irgend etwas auf der Lichtung schien ihm Angst einzujagen.
Ihre Arme wurden allmählich müde. Sie nahm das Kind von der Schulter und balancierte es auf der linken Hüfte, nicht nur zu seinem Schutz, sondern auch zu ihrer Entlastung. Es hieß, auch wenn sie es nur für Aberglauben hielt, wenn man das Schattenland mit geschlossenen Augen betrat, würde man das richtige Tageslicht nie wiedersehen. Irgendwie wollte sie mehr für dieses Kind.
Der Junge sah, wie sich die Lichter im Kreise drehten, jammerte ein wenig und vergrub den Kopf in der weichen Haut ihres Busens. Sie schob ihn weg und hielt ihn so, daß er das Gesicht nicht wieder verdecken konnte. Sofort stiegen ihm Tränen in die Augen. Sie wandte den Blick zur Seite.
Ihre Füße hatten eine winzige Spur im Tau hinterlassen. Sie trat über den Erdring, streckte die Hand aus und spürte die Wärme des Torkreises. Eine Träne fiel auf ihren linken Daumen, gefolgt von einer zweiten und dritten. Die Tränen rollten in ihre Handfläche, dann fielen sie auf den Boden. Sie sah den Jungen an. Er hatte einen Finger in den Mund gesteckt, das Gesicht war tränenüberströmt. Er schluchzte nicht, schniefte nicht einmal. Die Tränen schienen so natürlich wie das Atmen zu sein.
Als wüßte er, wohin sie ihn brachte und daß er auf dem Weg dorthin etwas sehr Kostbares verlor. Sie betrachtete ihre Fußabdrücke im feuchten Gras, das Sonnenlicht, das sich über die Baumstämme ergoß, und den Pfad dahinter. Sie könnte ihn zurückbringen und auf der Lichtung hinter dem Haus der alten Frau ablegen. Sie würden die ganze Angelegenheit schon bald nur noch als merkwürdigen Zwischenfall erinnern.
Oder sie hielten ihn für verzaubert und töteten ihn, so wie es die Nye zur Zeit des Krieges mit jedem Kind getan hatten, das in der Gewalt der Fey gewesen war.
Dieses magische Kind durfte nicht sterben.
Sie drehte den Jungen so, daß er sich nicht an sie schmiegen konnte, und trat durch den Kreis hindurch. Wie immer erwärmten die Lichter ihre Haut und brannten dann ein bißchen auf ihr. Der Junge schrie, als sie hindurchgingen, ein hohes, jaulendes Jammern, nicht vor Schmerz, sondern aus Angst.
Und dann waren sie drinnen, in dem Nebel und dem trostlosen Grau des Schattenlandes. Nirgendwo rührte sich etwas. Die Luft war wärmer dort, ein wenig stickig, dazu der Geruch von Holzfeuer, der sich aber legen würde, sobald der Wind aufkam. Dichter Nebel umwallte ihre Füße, doch er war nicht kalt, sondern erwärmte sie. Der Versammlungsstein lag verlassen da, und die Hütten hatten das abweisende Aussehen von Gebäuden, in denen die Bewohner noch fest schliefen.
Der Schrei des Jungen brach so abrupt ab, wie er eingesetzt hatte. Er vergrub das Gesichtchen in
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