Fey 03: Der Thron der Seherin
auch«, pflichtete Gabe ihm bei, obwohl er sich nach dieser Unterhaltung nicht ganz sicher war, ob es ihm wirklich besserging.
»Weißt du, wir beide sind anders als die anderen. Keiner von uns lebt bei seiner richtigen Mutter oder seinem richtigen Vater. Wenn du in Schwierigkeiten steckst, dann spüre ich das irgendwie. Ich glaube, wir sollten fest zusammenhalten«, sagte Coulter.
Gabe hob seine Hand und betrachtete das herabtropfende Licht.
»Ich glaube, uns bleibt auch gar keine andere Wahl«, entgegnete er.
26
Matthias konnte nicht schlafen. Er saß auf dem Betkissen, das er unter die schießschartenartigen Fenster im Andachtsraum des Fünfzigsten Rocaan geschoben hatte. In dem Raum roch es feucht und modrig. Von der Decke hingen Spinnweben herab, der kleine Altar war verstaubt. Das rostige Schwert hing neben der Tür.
Hier hatte der Fünfzigste Rocaan versucht, Gott nahezukommen. Jeden Morgen war er über die Hintertreppe in den winzigen, schmucklosen Raum hinabgestiegen und hatte eine Stunde damit verbracht, Gottes leiser, ruhiger Stimme zu lauschen. An seinem Lebensende hatte er jedoch gestanden, er habe diese Stimme niemals vernommen. Matthias hingegen hatte gar nicht erst an ihre Existenz geglaubt. Und doch stieg er jetzt ebenfalls mitten in der Nacht die ausgetretenen Stufen hinab, um hier Trost zu suchen.
Einst war der Tabernakel nichts mehr als die bescheidene Hütte eines Heiligen gewesen, mit einem Weihrauchgefäß, einem Altar und einem Kniekissen, damit der fromme Pilger sich seinem Gott nähern konnte. Nur ein einziger gemauerter Raum, in den der Fünfunddreißigste Rocaan vor drei Jahrhunderten als einzige Neuerung Fenster hatte einbauen lassen, war unverändert aus dieser Zeit erhalten geblieben. Aus dem Fenster wurde dann ein Sehschlitz, durch den der Rocaan sich mit Pfeil und Bogen gegen Angreifer zur Wehr setzte, die ihn aus dem Tabernakel vertreiben wollten.
Durch das Fenster fiel gerade so viel Licht, daß Matthias die Kerze ausblasen konnte, die er mitgebracht hatte. Von hier aus überblickte er den Fluß, und bei gutem Wetter reichte die Sicht bis hinüber zum Palast.
Er lehnte den Kopf gegen die feuchte Mauer. In der Nacht hatte ihm Nicholas eine Nachricht überbringen lassen, die nur aus drei Worten bestand.
Jewel ist tot.
Er sah noch immer Nicholas’ Gesicht vor sich. Der Fey trug die schwangere Tochter auf seinen Armen, und Nicholas folgte ihm. Er sah aus wie ein Mann, der seine Frau verloren hat. Ihr begeht einen Mord, Heiliger Herr. Aber das ist ja nicht das erste Mal.
Nicholas hatte nichts verstanden. Er hatte es noch nie verstanden. Schon als Junge hatte er sich vor seinen Pflichten gedrückt und war dem Religionsunterricht aus dem Wege gegangen. Als junger Mann hatte er Matthias einen Stein nach dem anderen in den Weg gelegt.
Er verstand einfach nicht, welches Schicksal ihnen bevorstand.
Niemand verstand das.
Dabei lag die Antwort im Weihwasser.
Bevor der Roca zugelassen hatte, daß die Soldaten des Feindes ihn niedermachten, hatte er sein Schwert mit dem Weihwasser gereinigt. In den Geschriebenen und Ungeschriebenen Worten stand, daß Roca in jenem Moment in Gottes Hand Aufgenommen wurde. In der traditionellen Auslegung der Rocaanisten bedeutete das, daß der Roca durch dieses Opfer sein Volk vor den feindlichen Soldaten gerettet hatte. Mit keinem Wort in den Schriften wurde jedoch erwähnt, daß dieses Wasser eine tödliche Wirkung entfalten konnte.
Der Fünfzigste Rocaan war der Meinung gewesen, daß sie das Weihwasser mißbraucht hatten. Er meinte, die Fey seien womöglich die Soldaten des Feindes, und er hatte dem Vorschlag, sich mit Rugar, Jewels Vater, zu treffen, in der Hoffnung zugestimmt, er allein könnte die Fey zum Rückzug bewegen.
Es war eine ebenso vergebliche wie hochfahrende Hoffnung gewesen. Der Rocaan wollte die Tat des Roca gleichsam wiederholen: Die Fey würden ihn erstechen, Gott würde ihn Aufnehmen, und die Fey würden anschließend die Blaue Insel ein für allemal verlassen.
Die Fey hatten ihn mit Hilfe ihrer magischen Kräfte umgebracht, und alles war beim alten geblieben. Dann hatte Nicholas eine Fey geheiratet, und seitdem herrschte ein unsicherer Waffenstillstand. Es mußte einen Grund geben, warum das Weihwasser eine so verheerende Wirkung auf die Fey ausübte. Niemand sonst litt so sehr, wenn er damit in Berührung kam. Alle anderen Inselbewohner nahmen täglich an den Sakramenten teil, ohne daß das Wasser ihnen
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