Fey 04: Die Nebelfestung
die Worte kaum verstand – die Stimme erkannte er. Die Stimme einer Frau. Abgesehen von der Umgangssprache hätte es Jewels Stimme sein können.
Er war allein in der Bibliothek. Trotz des recht warmen Nachmittags brannte ein Feuer im Kamin. Neben ihm stapelten sich Bücher auf dem Schreibtisch. Er hatte sich in den Rocaanismus vergraben, um auf eventuelle Präzedenzfälle zu stoßen, die darauf hinwiesen, daß er den Tabernakel übernehmen könne. Vor der Bibliothek hatte er Wachen aufstellen lassen, aber keine mit hereingenommen.
»Ich bitt’ Euch, mein Herr, laßt mich rein! Ich hab ihm was ganz Wichtiges zu sagen!«
Nicholas schob den Stuhl zurück und stand auf. Jetzt hörte er die Stimme des Postens, tief und ruhig, offensichtlich unbeeindruckt vom Drängen der Frau.
Er zog die Tür auf. Zwei Wachen versperrten den Zugang. Vor ihnen stand Charissa mit zerzaustem Haar und durchnäßtem Kleid.
»Ach, Sire«, sagte sie, »ich muß unbedingt was mit Euch besprechen.«
Er hatte ihr einst versprochen, daß sie sich jederzeit an ihn wenden dürfe. Damals war er jung gewesen und hatte sie für sehr hübsch gehalten. Sie war die erste Dienerin gewesen, die ihn über den Mißbrauch der Macht innerhalb der Hierarchie der Bediensteten aufgeklärt hatte, und statt die Angelegenheit als tragisch, aber durchaus normal anzusehen, hatte er versprochen, ihr zu helfen. Bis zu Jewels Tod hatte er das nie bereut. Jetzt brauchte er diese Ablenkung nicht mehr.
»Komm schon rein«, sagte er.
»Dank Euch schön«, erwiderte sie und zog den zur Seite tretenden Wachen ein Gesicht. Sie hob die Röcke, enthüllte ihre festen, kräftigen Fesseln und trat über die Schwelle, als wäre sie geweiht.
Nicholas schloß die Tür hinter ihr. Doch sie drängte sich nicht, wie er erwartet hatte, an ihn.
»Das war ’n Fey«, sagte sie. »Hab ihn genau gesehen, vor der Krönungshalle dort unten. Wie ’n Aud war der verkleidet.«
»Wie ein Aud?« Nicholas war verwirrt. Er hatte damit gerechnet, daß sie, wie schon einige Male zuvor, einen Annäherungsversuch machen und sich dann bei ihm über einen ihrer Vorgesetzten beschweren würde, aber nicht, daß sie ihm etwas über einen Aud erzählte.
»Stiefel trug er auch, der Kerl, und er war lang und dünn. Zuerst dacht’ ich noch, es is’ vielleicht der Rocaan, versteht Ihr? Aber dann hab ich seine Hand gesehen. Lang und dünn war sie, aber schwarz, ich dachte erst, vielleicht isses wegen dem Schatten, aber als ich die Stiefel gesehen hab, war alles klar. Außerdem stand er nich’ im Licht.«
Sie redete so schnell, daß er ihren Worten nur mit Mühe folgen konnte. »Wann war das?« erkundigte er sich.
»Grad eben, is’ noch nich’ lange her. Ich wär’ ja schon früher hier gewesen, aber diese Wachen …«
»Sie tun nur ihre Pflicht.«
»Schon. Und in der Zwischenzeit isser weg.«
»Er ist weggegangen?«
»Nein. Das is’ es ja gerade, warum ich gleich zu Euch bin. Er is’ nich’ weg. Er is’ einfach an mir vorbeigegangen.«
»Was hattest du denn in der Krönungshalle zu suchen?« Er hatte sie eigenhändig verschlossen. Niemand sollte sie mehr betreten.
»Ich war noch nich’ drin«, antwortete sie. »Ich war nur im Flur davor.« Dann rümpfte sie die Nase, und er sah wieder die Schönheit, an die er sich erinnerte. Sie war so anders als Jewels Schönheit. Jewels war kantig und scharfsinnig gewesen. Diese Frau hingegen war rund und üppig und weich. Zu weich für seinen Geschmack.
»In der Nähe der Krönungshalle?«
»Genau, Sire«, sagte sie.
»Und wo ist er jetzt?«
»Keinen Schimmer«, antwortete sie. »Sobald er weg war, bin ich gleich hergerannt.«
Sie konnten sich nicht richtig verständigen, was er als sehr anstrengend empfand. »Wo ist er denn hin? In den Palasthof?«
»Nein. Er ist die Treppen hoch«, sagte sie. Jetzt hörte er wieder die Dringlichkeit in ihrer Stimme.
»Die Treppen!« Sein Herz fing an zu rasen. »Die Treppen unweit der Krönungshalle?«
»Genau, Sire. Ich dachte, vielleicht will er zu Euch, daß es vielleicht der Rocaan ist, mit’m Messer, aber es war ja ’n Fey, und irgendwie kapier ich das alles überhaupt nich’.«
Nicholas schon. Er sah alles klar und deutlich vor sich. Die Schamanin, die seine sich windende Tochter in den Armen hielt.
Ich will das Kind, hatte Rugar gesagt.
Was hatte die Schamanin darauf geantwortet? Etwa, daß man Arianna rauben müsse?
Er hatte einen Fey ausgesandt, Arianna zu holen.
Nicholas stieß einen
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