Fey 04: Die Nebelfestung
erinnerte sich daran, daß er Teile von Orts zermartertem Körper gesehen hatte, nachdem sie mit ihm fertig gewesen waren. Er hatte nicht mehr viel Ähnlichkeit mit einem Menschen gehabt. Seine Haut war größtenteils entfernt, sein Mund mit einem Knebel verstopft, die Hände nur mehr zwei schlaffe Fleischklumpen gewesen. Nur seine Augen, die ihn vor Entsetzen aufgerissen angestarrt hatten, waren noch zu erkennen gewesen.
Coulter war zu jung zum Sterben.
Schon gar nicht auf diese Weise.
»Warte!« Gabes Stimme rief Adrian durch den Nebel, aber er wartete auf niemanden mehr. Nach allem, was er wußte, hatte der Urenkel des Schwarzen Königs seinen besten Freund den Hütern übergeben, nachdem Coulter Gabe erzählt hatte, daß er weggehen würde.
In der Nähe der Hütte der Hüter war niemand zu sehen. Aus dem Schornstein stieg Rauch auf. Adrian hetzte die Treppe hinauf und zögerte. Seine Jahre der Ausbildung, all die Jahre im Schattenland hatten ihn gelehrt, niemals unüberlegt irgendwo hineinzuplatzen, sondern sich vorher zu überlegen, ob er willkommen war oder unerwünscht kam.
Er war unerwünscht.
Wahrscheinlich waren sie dabei, Coulter zu töten.
Er stieß die Tür auf.
Streifer und Rotin standen mit blutverschmierten Armen nebeneinander. Im ganzen Raum roch es nach Angst, Eisen und Rauch. Aber das waren nur Details. Das Ding, das seine Aufmerksamkeit sofort auf sich lenkte, war der riesige Hautball, der auf dem Tisch lag.
»Mein Gott«, sagte Adrian. »Was habt ihr ihm angetan?«
An dem Jungen waren weder Gesicht noch Glieder zu erkennen. Er war nur noch eine Kugel aus Haut, an deren Seiten das Blut herunterrann.
»Raus mit dir!« knurrte Rotin.
»Nicht ohne Coulter!«
»Du hast hier nichts zu suchen, Inselbewohner«, sagte Rotin. »Raus!«
»Nein.« Er ging auf den Tisch zu. Er wußte nicht, was er mit dem Jungen anfangen wollte, sobald er ihn hatte. Auch Mend konnte mit diesem Gebilde nichts anfangen. Nur die Hüter. »Coulter?«
Er bildete sich ein, aus dem Inneren der Kugel ein jämmerliches Klagen zu hören. Als er näher kam, wurde der Gestank beinahe unerträglich.
Streifer legte einen Finger auf Adrians Arm. Adrian zuckte zusammen. »Du gehst besser wieder«, sagte Streifer sanft.
»Nicht ohne Coulter!« wiederholte Adrian.
»Willst du uns drohen, Inselbewohner?« fragte Rotin. »Willst du uns alle mit eurem Gift zusammenschmelzen?«
Adrian wirbelte herum. Er hatte bei dem Versuch, seinen Sohn zu beschützen, fünf Jahre seines Lebens an diese Leute verloren, und trotzdem richteten sie Luke zugrunde. Und jetzt töteten sie Coulter. Ihm war nichts mehr geblieben. Nichts.
»Wenn ich Weihwasser hätte, ich würde es zuallererst auf dich spritzen, Rotin. Du bist die böseste, nutzloseste Kreatur, der ich je begegnet bin. Und du, Streifer, vergreifst dich ebenfalls an einem Kind. Coulter hat dir nichts getan. Gib ihn mir wieder. Sofort!«
»Wie aggressiv«, sagte Rotin mit beinahe zärtlicher Stimme und kam auf Adrian zu. Er mußte die Füße fest gegen den Boden stemmen, damit er nicht zurückwich. Ein gewisser Anteil des Gestanks kam von ihr. Zu ihren Füßen lagen kleine Beutel. Leere Beutel.
Sein Magen wollte sich umdrehen.
»Gebt ihn heraus«, sagte er.
Der Gestank wurde stärker, beinahe wie verbranntes anstelle von verwesendem Fleisch. Sein Magen überschlug sich, ihm wurde übel. Hinter ihnen hämmerte jemand gegen die Tür.
»Du hast keine Ansprüche auf den Jungen, kleiner Mann«, sagte Rotin. »Er gehört jetzt uns.«
Von der Hautkugel stieg ein Rauchwirbel auf. Streifer gab ein eigenartiges Geräusch von sich und legte eine Hand auf die Seite der Kugel. Sie wackelte.
»Rotin!«
Sie drehte sich um, sah das Ding rauchen und warf Streifer einen erstaunten Blick zu. Adrian packte die Hautkugel und zuckte zusammen, als sie sich an seine Hände schmiegte. Sie war heiß. Er zog die Hände zurück. Sie waren nicht verbrannt, aber viel hatte nicht gefehlt.
Der Geruch angesengten Fleisches wurde stärker.
Dann fraß sich ein Loch in die Kugel, und ein Lichtstrahl trat aus, erwischte Adrian und warf ihn gegen die Wand. Das Licht hielt Coulter gefangen, nicht in seiner körperlichen, vielmehr in seiner geistigen Gestalt. Er hatte Angst und drang mit unglaublich dichten Gefühlen, Worten und gebrabbelten Sätzen in Adrians Bewußtsein ein.
Adrian hatte es den Atem verschlagen. »Aufhören, aufhören«, sagte er, aber er wußte nicht mehr, ob er die Worte sprach oder dachte.
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