Fey 04: Die Nebelfestung
um den Schlamassel wieder aufzuräumen.
Der Wind wehte kühl vom Fluß her und roch leicht nach feuchtem Boden. Stowe hatte nicht damit gerechnet, daß der Vollmond alles so hell machte, und er fragte sich, ob einer der Auds ihn und die Wachsoldaten bemerkt hatte. Falls ja, schienen sie angesichts des großen Trupps, der direkt vor den Mauern stand, nichts zu unternehmen. Stowe blieb wie zur Probe noch eine Zeitlang dort stehen und hoffte, daß sich doch noch jemand zeigte, irgend jemand, der sie aufforderte, wegzugehen.
Niemand kam.
Sie ließen einfach die Tore sperrangelweit offenstehen, ohne zu kontrollieren, wer dort ein und aus ging. Stowe würde jede Wette eingehen, daß sie auch die Türen im Innenhof unbewacht und unverschlossen vorfänden.
Matthias hätte Schutz anfordern sollen. Nach dem Angriff in der vorangegangenen Nacht hätte er wissen müssen, was passieren würde. Doch seitdem er Rocaan war, war Matthias sorglos geworden, beinahe so, als hielte er sich dieses Postens für unwürdig, und er war sehr unbeliebt. Keiner der Ältesten setzte sich dafür ein, daß Matthias mehr Schutz zuteil wurde, so wie es Stowe bei Nicholas getan hatte.
Gerade jetzt brauchte Nicholas Schutz. Den Umständen entsprechend ging es ihm gut.
Den Umständen entsprechend.
Doch es war jetzt nicht an der Zeit, einigermaßen zu funktionieren. Nicholas machte die entscheidende Zeit seiner Regierung durch. Alles hing von den kommenden paar Tagen ab.
Starb Matthias, ohne zuvor das Geheimnis des Weihwassers weitergegeben zu haben, dann ging das Königreich mit ihm zugrunde. Nicholas machte sich das nicht klar genug.
Dabei war Nicholas selbst sogar in gewisser Hinsicht ersetzbar. Nur Matthias hatte dafür gesorgt, daß er unersetzlich blieb.
Über allen Fenstern und über den Flügeltüren brannten Fackeln. Dünne Rauchschnörkel stiegen zum Mond hinauf. Die Fackeln brannten jede Nacht, was an den Rußflecken auf dem weißen Putz abzulesen war. Als Junge war Stowe oft hierhergekommen, um über die Mauer zu linsen und den Auds bei ihren morgendlichen Ritualen zuzuschauen. Seit jeher hatte er sich gewünscht, zum Tabernakel zu gehören, doch das war ihm verwehrt geblieben.
Er war der älteste Sohn. Sein Schicksal war es, Lord Stowe zu werden. Seinen jüngeren Bruder hatte man in den Dienst der Religion gezwungen. Das letzte, was Stowe von ihm gehört hatte, war, daß er als Aud in die Schneeberge gezogen war, wo die Disziplin der Rocaanisten zu wünschen übrig ließ. Sein Bruder hatte die Kirche ebenso gehaßt, wie Stowe sie verehrt hatte. Wäre es ihnen nur möglich gewesen, einfach die Rollen zu tauschen. Aber Regeln waren Regeln, wie sein Vater zu sagen pflegte, und diese Regeln existierten aus Gründen, die weit über den Horizont eines normalen Menschen hinauswiesen.
Dem stimmte Stowe zu.
Die Ankunft der Fey hatte sein Verständnis der Regeln und seinen Begriff von Ehrenhaftigkeit nachhaltig erschüttert. Er bewunderte Nicholas’ Fähigkeit, sich den Veränderungen anzupassen, und er wußte, daß solche Eigenschaften notwendig waren, doch zugleich wünschte er, Nicholas wäre sich ebenso bewußt darüber, wann es galt, harte und strenge Regeln anzuwenden und durchzusetzen.
So wie jetzt. Hätte Nicholas ihm mehr als eine mürrische Erlaubnis erteilt, wäre es für Stowe wesentlich einfacher gewesen, seine Wachsoldaten zum Tabernakel zu bringen.
Stowe war auf eine lange Diskussion mit entweder einem Ältesten oder mit Matthias selbst vorbereitet und befürchtete insgeheim, daß Matthias sie nach der kleinen Szene mit Nicholas am Nachmittag hochkant hinauswerfen würde.
Trotzdem bedurfte der Tabernakel dringend seiner Hilfe. Er würde Matthias davon überzeugen, die Wachen unter allen Umständen zu akzeptieren.
Stowe schritt durch das Tor und über den Innenhof. Auf halbem Weg lenkte eine Bewegung seine Aufmerksamkeit in Richtung des Balkons. Er blickte hinauf, sah aber nichts.
Bis auf ein Seil, das vom Balkongeländer herabbaumelte.
Stowe stieß einen unterdrückten Fluch aus und ging zu dem Seil hinüber. Es war an einem Baum festgeknotet. Es mußte das Seil sein, das Luke zum Einsteigen benutzt hatte. Diese verdammten Ältesten! Sie wußten es und hatten nichts getan. Sie wollten Matthias ebenso rasch loswerden wie Nicholas.
Und Matthias selbst, der Mann, den Stowe am Nachmittag gesehen hatte, war keinesfalls selbst in der Lage, Vorsorge für seine Person zu treffen.
Stowe zog am Seil. Es hing lose vom Balkon
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