Fey 04: Die Nebelfestung
herab, und sein sanftes Hin- und Herschwingen im Wind war es gewesen, was Stowes Aufmerksamkeit erregt hatte.
Er postierte zwei Wachen daneben und ging auf die große Doppeltür zu. Genau wie er vermutet hatte: kein einziger Aud stand hier Wache. Das Fackellicht war hell genug, um den gesamten Hof gut auszuleuchten. Bis auf seine eigenen Wachsoldaten war Stowe allein.
Dann drückte er mit der Faust die Klinke herab. Sie ließ sich ganz leicht bewegen, doch er machte die Tür nicht auf. Statt dessen betätigte er den Türklopfer so kräftig, daß das Echo durch den ganzen Tabernakel dröhnte. Er wollte die guten Leute nur ein wenig aufschrecken und ihnen damit zeigen, daß Matthias nicht der einzige war, der den Fey sorglos ausgeliefert war.
Niemand antwortete. Stowes Unbehagen wuchs. Er warf einen Blick auf die Wachen hinter ihm. Einer sah zum Balkon hinauf. Auch das bereitete Stowe Sorgen. Das Seil hätte schon längst entfernt werden müssen. So, wie es da hing, wies es jedem Eindringling den direkten Weg zu den Gemächern des Rocaan. Er hoffte nur, daß Matthias schlau genug war, seine Unterkunft zu wechseln.
Doch er bezweifelte es.
Vielleicht verbrachte Matthias, wie nach Lukes Besuch, noch eine Nacht im Andachtsraum. Bei diesen Geistlichen wußte man nie so recht.
Da niemand auf sein Klopfen reagierte, pochte Stowe ein zweites Mal an, diesmal so kräftig, daß es nicht nur durch den Tabernakel, sondern über den gesamten Innenhof hallte.
Endlich wurde die Tür aufgestoßen. Ein Aud streckte den Kopf heraus. Sein Haar war zerzaust und die Augen nur halb offen. Er hatte fest geschlafen.
Der Junge konnte kaum älter als zwölf sein.
Keine Sicherheitsvorkehrungen. Nicht die geringsten Vorsichtsmaßnahmen.
Gleich nach seiner Rückkehr in den Palast würde Stowe sämtliche Systeme überprüfen, die zum Schutze Nicholas’ eingerichtet waren. Manchmal übernahm man gedankenlos die alten Gepflogenheiten, ohne die Veränderungen zu berücksichtigen.
Womöglich hatte Nicholas nach den Attentaten keine neuen Anordnungen getroffen; vielleicht warteten die Palastwachen dringend auf Befehle von ihrem neuen König.
Der Gedanke jagte Stowe einen Schauer über den Rücken.
Der Aud starrte ihn an, als hätte er noch nie zuvor einen Lord gesehen.
»Ich würde gerne den Heiligen Herrn sprechen«, sagte Stowe.
Der Junge schüttelte den Kopf. »Tut mir echt leid, mein Herr, aber der Rocaan liegt schon im Bette, der steht erst im Morgengrauen wieder auf.«
»Ich glaube, er wird mich auch sprechen wollen«, erwiderte Stowe.
»Geht nich’. Ich darf ihn jetzt nich’ stören, mein Herr. Hab ich extra so aufgetragen bekomm’, mein Herr, ausdrücklich.« Der Junge kam nicht aus Jahn. Er wäre nie in den Tabernakel gekommen, stammte er aus einer Bauernfamilie, aber seine Ausdrucksweise wies ihn als einen Angehörigen der Klasse der Bediensteten aus. Er mußte aus den Bergen stammen, oder von den Blutklippen.
Oder aus den Sümpfen von Kenniland.
Stowe war am Ende seiner Geduld.
»Er wird mich empfangen«, sagte er und schob das Kind beiseite, so wie es Nicholas am Nachmittag getan hatte.
Im Inneren des Tabernakels war es düster. Im Eingangsbereich brannten einige Laternen, doch der Gesamteindruck war eher der von tiefer Dunkelheit. Aus der Finsternis kam ein weiterer Aud auf Stowe zu. Er war älter als der erste, aber nicht sehr viel.
»Kann ich mit einem amtierenden Geistlichen sprechen?« fragte Stowe.
Der neue Aud schüttelte den Kopf. »Die amtierenden Geistlichen sind zu dieser Zeit im Lande unterwegs«, sagte er.
»Wer ist dann für den Tabernakel verantwortlich?«
»Der Älteste Porciluna«, antwortete der erste Aud. »Er is’ noch wach, wenn Ihr mit dem sprechen wollt.«
»Nein«, gab Stowe zurück. »Ich muß den Rocaan sprechen.«
Der neue Aud verschränkte die Arme und schob sich vor die Treppe. »Der Rocaan sagte ausdrücklich, daß keiner der Männer des Königs vorgelassen werden soll.«
Es war der erste Ansatz einer klugen Überlegung, die Stowe seit seiner Ankunft vor dem Tor begegnet war. »Ich muß mit ihm sprechen. Du mußt ihn wecken.«
»Nein, Euer Lordschaft.«
Die Wachen standen dichtgedrängt vor dem Tor, so daß von außen kein Licht hereinfiel. Der junge Aud sah ängstlich aus. Nach der Szene mit Nicholas am Nachmittag war es nicht verwunderlich, daß sie Angst vor der Palastwache hatten.
Stowe ballte die Fäuste. Vor der Ankunft der Fey hatte man auf der Insel herrlich leben
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