Fey 05: Der Schattenrpinz
Ihre Stimme klang angeekelt. »Es sah aus wie ein Anfall.«
»Es war eine Vision«, bestätigte Kiana. »Und zwar eine mächtige.«
Gabe nickte. Die Hitze und seine Benommenheit waren noch schlimmer geworden. »Tu mir einen Gefallen, Leen.« Seine Stimme klang rauh. Die Vision hatte sich angefühlt, als beschriebe sie nur einen kurzen Augenblick, aber Gabe wußte aus Erfahrung, daß ein Augenblick in einer Vision in Wirklichkeit einen halben Tag dauern konnte. »Bitte sieh zum Tabernakel hinüber. Sind die Fenster eingeschlagen?«
Leen wanderte am Ufer entlang, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Als der Tabernakel in Sichtweite kam, blieb sie stehen, kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. »Alles in Ordnung«, rief sie. »Er ist in bestem Zustand.«
»Das war eine Warnung«, murmelte Gabe. »Das war irgendeine Art von Warnung.«
Aber wovor, wußte er nicht.
Attentäter, Mord, der leere Tabernakel. Und wen konnte er nicht töten? Und warum? Und warum wollte Coulter, diese friedliche Seele, so etwas tun?
»Hatte die Vision etwas mit unserem Ausflug zu tun?« erkundigte sich Kiana.
Gabe schüttelte den Kopf. »Visionen geschehen nicht auf Befehl, Kiana«, sagte er. Aber insgeheim wußte er, daß die Vision doch etwas mit ihrem Unternehmen zu tun hatte. Sie war genau in dem Augenblick eingetreten, in dem er beschlossen hatte, nur Kiana und Leen auf die Reise mitzunehmen. Diese Entscheidung stand in direktem Zusammenhang mit der Zukunft, die die Vision ihm gezeigt hatte.
Das Problem war nur, daß er nicht wußte, ob es eine gute oder eine schlechte Zukunft war. Anders als in der ersten Vision, deren Verwirklichung er zu verhindern versuchte, wußte er nicht, ob er diese ändern, ihr keine Beachtung schenken oder sie als Fingerzeig betrachten sollte.
Er streckte die Hand aus, und Kiana zog ihn hoch. Die Hand der Spionin war kühler als seine eigene, etwas, was er immer vergaß. »Willst du immer noch aufbrechen?« fragte sie leise.
Das Bild des zerstörten Tabernakels spukte immer noch in Gabe herum. Dieser Ort, Stätte des geweihten Giftes und Schauplatz des Todes so vieler Fey, hatte ihm schon Angst eingejagt, als er ihn zum ersten Mal gesehen hatte.
»Ja«, sagte er. »Ich will aufbrechen. Ich glaube, es ist dringender als je zuvor.«
14
Solanda näherte sich dem Palast in ihrer Katzengestalt und schlüpfte unbemerkt durch den Haupteingang. Ihre müden Pfoten hinterließen staubige Abdrücke auf dem frisch gewienerten Marmorfußboden. Mit angelegten Ohren und gesenktem Schwanz schlich sie durch die Gänge. Ihr Maul schmeckte immer noch nach Federn, und sie hoffte, daß sie Arianna nicht zu arg verletzt hatte. Obwohl Solanda so wütend wie noch nie auf das Mädchen war, wollte sie ihm keinen körperlichen Schaden zufügen.
Ein Rotkehlchen. Arianna hatte sie angelogen. Sie hatte behauptet, sie habe sich genau wie Solanda für die Katzengestalt entschieden, und Solanda hatte sich auch noch geschmeichelt gefühlt.
Von einer Dreijährigen.
Arianna hatte die Lüge zwölf Jahre lang aufrechterhalten.
Solanda huschte die Treppe empor. Zwölf Jahre, die schwierigsten Jahre für ein Kind, seine Wandlungen zu verheimlichen. So lange hatte Arianna ihre Fähigkeiten vor Solanda verborgen.
Was verschwieg ihr das Mädchen sonst noch alles?
Solanda wußte nicht, ob sie es wirklich herausfinden wollte, doch es blieb ihr letztendlich keine andere Wahl. Und dann mußte sie Arianna die Wahrheit über ihren Bruder mitteilen; dabei hatte sie immer gehofft, daß ihr das erspart bliebe.
Sie scheute sich schon jetzt davor.
Vielleicht verbannte man sie sogar aus dem Palast.
Vielleicht war es ja auch keine so große Tragödie, wie sie immer befürchtet hatte. Offensichtlich brauchte Arianna sie nicht so nötig, wie Solanda geglaubt hatte.
Am oberen Ende der Treppe angekommen, schlich Solanda in ihre eigenen Gemächer. Sie hatte diese Räume bezogen, kurz nachdem Arianna laufen gelernt hatte. Damals hatte Solanda sich klargemacht, daß sie dem Palast noch lange angehören würde. Man stellte ihr die leerstehende Zimmerflucht zur Verfügung, und sie hatte sie sich zu eigen gemacht, indem sie die Fenster ununterbrochen offenstehen ließ, so weit wie möglich das natürliche Licht ausnutzte und die Räume mit von Domestiken gewebten Decken und Teppichen ausstattete. Inzwischen, fünfzehn Jahre später, waren fast alle Gegenstände in den Zimmern von Fey hergestellt, und Solanda fühlte sich wie
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