Fey 05: Der Schattenrpinz
sagen. »Manchmal bin ich etwas begriffsstutzig«, entgegnete er.
Die Schamanin lachte. Das Geräusch kam tief aus ihrem Bauch. »Eure Ehrlichkeit ist eine der Eigenschaften, die ich an Euch schätze«, sagte sie. »Was ich versuche, Euch mitzuteilen, ist folgendes: Was Magie für die einen ist, Nicholas, ist Religion für die anderen.«
»Wollt Ihr damit sagen, daß der Roca über magische Kräfte verfügte?«
»Nein«, entgegnete sie. »Dafür weiß ich nicht genug über ihn. Aber Ihr solltet es wenigstens in Erwägung ziehen. Eure Kinder haben Fähigkeiten, die kein Fey vor ihnen je besessen hat.«
»Die Fey haben sich auch früher schon mit anderen Völkern vermischt«, wandte Nicholas ein. »Man sagt doch, die Magie werde dadurch stärker.«
»Stärker schon«, räumte die Schamanin ein. »Aber sie verändert sich nicht. Eure Kinder aber verhalten sich nicht wie gewöhnliche Fey. Ihre Magie ist anders.«
»Und Ihr glaubt, das liege am Roca.«
»Ich glaube nur, daß Ihr sämtliche Möglichkeiten in Betracht ziehen solltet.«
»Warum erzählt Ihr mir das alles erst jetzt?« fragte Nicholas. »Warum nicht damals, als meine Kinder zur Welt kamen?«
»Weil dies das letzte Mal sein könnte, daß ich Euch sehe, Nicholas«, sagte die Schamanin, und ihre Unterlippe zitterte.
»Wegen des Schwarzen Königs?« fragte er. »Ich finde nicht, daß Ihr mich auf diese Weise schützen solltet. Wir sind Freunde …«
»Wir sind lange Zeit Freunde gewesen«, bestätigte die Schamanin. »Ich bewundere Euren Mut, Eure Klugheit und Eure Anpassungsfähigkeit. Ich glaube, Ihr seid der Retter Eures Volkes, meines Volkes und Eurer Kinder. Ich halte Euch für einen der besten Menschen, denen ich je begegnet bin, Fey oder Nicht-Fey.«
»Aber warum wollt Ihr dann gehen?« fragte Nicholas. »Ich zähle auf Euch. Ihr seid einer meiner wenigen Freunde.«
»Ich habe keine andere Wahl«, entgegnete die Schamanin.
»Jewel hat immer gesagt, Visionen könnten geändert werden.«
»Das können sie auch«, bestätigte die Schamanin. »Aber sie zu ändern muß zu einer besseren Zukunft führen, nicht zu einer schlechteren.«
»Wollt Ihr damit sagen, daß es besser für Euch ist, zu sterben?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich will damit sagen, daß es vielleicht besser ist, wenn wir uns nicht wiedersehen.« Sie ergriff seine Hände und zog ihn zu sich heran. »Ich schätze Euch sehr, Nicholas.«
»Ich schätze Euch auch«, sagte er, als er wieder sprechen konnte.
Die Schamanin neigte den Kopf und ging langsam zur Tür.
»Findet einen Weg zurückzukommen«, bat Nicholas.
Sie lächelte. »Paßt gut auf Eure Kinder auf, Nicholas«, sagte sie. »Alle anderen sollen selbst auf sich aufpassen.«
20
Gabe wußte nicht genau, wie weit Coulters Anwesen entfernt war, aber er wußte, daß sie sich in der Nacht am Tabernakel vorbeischleichen mußten.
Die Fey haßten und fürchteten diesen Ort. Es war die Stelle, an der die ersten Fey gestorben waren, an dem die Schlacht von Jahn verloren wurde. Das alles hatte sich vor Gabes Geburt abgespielt, und doch war es ihm so vertraut, als hätte er es selbst miterlebt. Er konnte sogar die Namen der Toten aufzählen.
Er fühlte sich auf der Brücke äußerst unwohl. Das robuste Bauwerk bestand aus Stein und war so breit, daß mehrere Personen nebeneinander gehen konnten und trotzdem noch genug Platz für einen Pferdewagen blieb. Selbst bei heftigem Wind schwankte die Brücke nicht und war damit stabiler als viele Gebäude, die auf festem Boden errichtet waren.
Trotzdem war Gabe schwindlig.
Sicherlich war zum Teil die Verfolgungsjagd heute nachmittag daran schuld. Er hatte eine kräftige Mahlzeit zu sich nehmen und unglaublich viel Wasser trinken müssen, um sich davon zu erholen. Aber der Schreck steckte ihm immer noch in den Gliedern. Beinahe hätte er den größten Fehler gemacht, den ein Fey begehen konnte. Er hatte nicht damit gerechnet, daß seine Schwester seine Absichten mißverstehen und derartig wütend werden würde. Und noch weniger hatte er damit gerechnet, daß sie ihn nicht erkannte.
Kiana ging zu seiner Linken. Sie hatte das Essen beschafft. Gabe wußte nicht, wie, aber er hütete sich zu fragen. Sie blickte ständig nervös zur Seite und über die Schulter zurück, als warte sie auf etwas.
Leen deckte Gabes rechte Seite. Sie ging sehr aufrecht, das Kinn vorgeschoben, die Augen geradeaus. Eine Hand lag auf ihrem Schwertknauf, die andere hielt einen gezückten Dolch. Gabe
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