Fey 05: Der Schattenrpinz
der Kehle. Sein Körper wollte ihn verraten. Er hätte gern einmal mit seiner Schwester gesprochen, von einem Halbfey zum anderen. Nur war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür.
Er mußte Sebastian finden und dann darüber nachdenken, wie er sie beide schützen konnte.
Die Vision war ganz einfach und ungewöhnlich klar gewesen. Visionen waren im allgemeinen flüchtige Eindrücke, verschwommene Bilder, Puzzles, die erst zusammengesetzt werden mußten. Diese jedoch hatte einen vollständigen Handlungsablauf wiedergegeben, den Gabe zudem gleich aus zwei Blickwinkeln gesehen hatte, was ihn noch mehr erschreckte.
Im ersten Teil der Vision stand er vor einem Fey, den er noch nie gesehen hatte. Sie befanden sich in einem großen Raum, offenbar im Palast der Inselbewohner. Außer ihnen waren dort viele Fey-Wachen versammelt. An den Wänden hingen Speere, auf einem Podest stand ein Thron, auf dem jedoch niemand saß. Auf der Wand hinter dem Thron prangte ein Wappen: zwei Schwerter, die sich über einem Herzen kreuzten.
Gabe war noch nie an diesem Ort gewesen, aber das Wappen erkannte er. Es gehörte der Familie seines Vaters.
Der fremde Fey besaß die wettergegerbte Haut eines Soldaten. Seine Augen waren dunkel und leer, seine Hände vom Alter verkrümmt. Er glich Gabes längst verstorbenem Großvater. Er starrte Gabe mit funkelnden Augen und ausgestreckten Händen an, als sei Gabe ein Wunderwesen, eine Art religiöse Sehenswürdigkeit.
Dann spürte Gabe einen scharfen Schmerz im Rücken. Der Fey schrie auf – seine Worte verschwammen ebenso wie sein Gesicht und der gesamte Raum –, und dann löste sich die ganze Vision in Dunkelheit auf.
Die zweite Vision hatte Gabe noch mehr verstört, obwohl sie unpersönlicher war. Er selbst befand sich außerhalb seines Körpers. Er schwebte über sich, als blicke er durch einen Spalt in der Wand oder sei eine Spinne an der Zimmerdecke. Sein Körper stand unter ihm, größer als dieser merkwürdige Fey. Sein Körper war genauso alt wie jetzt auch, er gehörte einem Jüngling, nicht einem ausgewachsenen Fey. Der Mann und Gabe standen einander dicht gegenüber, umringt von Fey-Kriegern. Zwei von ihnen bewachten die Tür. Die Fey trugen keine Waffen, aber einige von ihnen sahen aus wie Fußsoldaten, mit langen, tödlichen, messerscharfen Fingern.
Niemand schien Gabe zu bemerken.
Der alte Fey sagte etwas. Er musterte Gabes Körper wie ein kostbares und seltenes Gut. Der Körper – und Gabe – beobachteten ihrerseits den Mann.
Dann schlüpfte jemand in einem Kapuzenumhang durch die Tür. Die Fey-Wachen traten beiseite, aber der alte Mann bemerkte den Eintretenden nicht. Eine behandschuhte Hand mit einem langen Messer schob sich aus dem Ärmel des Umhangs. Mit zwei raschen Schritten hatte der Eindringling den Raum durchquert und die Klinge in den Rücken des Körpers gestoßen.
Gabe schrie auf, aber er konnte nicht in den Körper zurückkehren. Auch der alte Mann schrie. Die Tür war offen und der Eindringling verschwunden.
Der Körper lag mit aufgerissenen Augen auf dem Boden. Blut rann aus seinem Mundwinkel. Er hustete einmal, dann pfiff der Atem in seiner Kehle. Das Pfeifen endete in einem Seufzer, und dann schwand das Leben aus dem Gesicht.
Gabes Gesicht.
Damit brach die Vision ab.
Zwei Versionen seines eigenen Todes. Eine in seinem Körper – in dem er den Todesstoß spürte – und eine von außen gesehen. Die Visionen hatten ungefähr vor einem Monat begonnen. Schließlich hatte Gabe am Tag zuvor die Schamanin aufgesucht, wie sie es ihm vor langer Zeit im Hinblick auf schwerverständliche Visionen geraten hatte. Sie hatte ihn voller Mitleid angesehen.
Hast du gewußt, daß jeder Visionär seinen eigenen Tod Sieht? hatte sie gefragt.
Gabe hatte genickt. Er wußte auch, daß man eine Todesvision verändern konnte. Schon als Junge hatte er einmal seinen eigenen Tod gesehen – als seine richtige Mutter starb, hätte er eigentlich mit ihr sterben müssen –, aber sein Freund Coulter hatte dieses Schicksal von ihm abgewendet.
»Also ist es mein Tod?« hatte er gefragt.
Die Schamanin hatte den Kopf geschüttelt. Zwei Visionen, zwei Wege. In der zweiten stirbst nicht du, sondern jemand anders.
Sebastian. Sebastian: gut, unschuldig und kindisch. Sebastian, der Golem, der eigentlich nicht leben dürfte und doch lebte. Sebastian, den Gabe wie einen Bruder liebte. Sebastian, der so eng mit Gabe verbunden war, daß Gabe sich fragte, ob einer ohne den anderen überhaupt
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