Fey 05: Der Schattenrpinz
Gleichgewicht zu verlieren, landete Wirbler auf der steinernen Brüstung. Ein Nachtfalter, den sein schwacher Schimmer angelockt hatte, ließ sich neben ihm nieder. Er war groß und häßlich. Seine Augen sahen in der Dunkelheit wie leere Löcher aus.
»Schsch«, zischte Wirbler und scheuchte das Tier mit beiden Händen weg. Beinahe hätte der Flügelschlag des Falters Wirbler umgeworfen.
Wirbler balancierte zum inneren Rand der Brüstung und blickte hinunter. Der Klumpen war groß, rund und verströmte immer noch einen scheußlichen Gestank. Beinahe hätte Wirbler sich auf ihm niedergelassen, um ihn näher zu begutachten, als ein Mondstrahl eine Einzelheit beleuchtete.
Ein Ohr.
Ein leicht zugespitztes, dunkelhäutiges Ohr ragte aus dem Klumpen heraus.
Und auf der anderen Seite eine Hand, die ins Leere griff.
Vor Überraschung stieg Wirbler steil in die Luft, eine Hand auf den Mund gepreßt. Das Ding da unter ihm mußte einmal ein Fey gewesen sein. Also waren die Geschichten, die er über das Gift gehört hatte, doch wahr. Es konnte einen Fey auflösen wie ein Stück Zucker. Wirbler wischte sich fieberhaft Flügel, Füße und Beine ab – alles, was mit dem Gift in Berührung gekommen sein konnte –, obwohl man ihm auch erklärt hatte, daß die Wirkung des Giftes unverzüglich eintrat.
Wenn er das Zeug wirklich berührt hätte, wäre er jetzt schon geschmolzen.
Immerhin besaß er ein Gegengift. Anders als der arme Fey auf der Brücke. Dieser Fey konnte keiner von Rugads Soldaten gewesen sein. Er mußte zu den Versagern gehört haben. Die konnten sich nicht gegen das Gift zur Wehr setzen.
Wirbler erschauerte, und er folgte wieder der Straße. Seine körperliche Erschöpfung war wie weggeblasen. Adrenalin schoß durch seine Adern. Diese Insel war längst nicht so friedlich, wie der gute König der Inselbewohner es darstellte. Der einzige Fey bei dem Festessen war sein eigener Sohn gewesen. Und auf der wichtigsten Brücke der Stadt war ein Fey ermordet worden.
Vielleicht hatte der Inselkönig doch recht. Vielleicht sollte man sich vor seinem Volk lieber in acht nehmen. Wirbler würde das besonders betonen, wenn er Rugad Bericht erstattete. Rugar, der Sohn des Schwarzen Königs, hatte nie auf eine vernünftige Warnung gehört. Rugad war da anders.
Wirbler beschleunigte sein Tempo so sehr, daß er fast die einzigen Leute übersehen hätte, die um diese Zeit auf der Landstraße unterwegs waren. Es waren zwei Menschen, die Seite an Seite gingen und die Köpfe absichtlich gesenkt hielten, als sie am Tabernakel vorbeikamen, als wollten sie nicht gesehen werden.
Auch Wirbler warf einen Blick auf den Tabernakel. Es war ein großes Gebäude, genau wie es die Nye beschrieben hatten, palastähnlicher als der Palast selbst. Die Außenmauern waren mit eingeritzten Schwertern verziert, vor jedem Fenster hingen Wandteppiche, und alle Stockwerke waren erleuchtet. Was für eine Geldverschwendung für solch ein sinnloses Treiben!
Trotzdem lief es Wirbler kalt den Rücken herunter, als er daran vorbeiflog. Der Tabernakel war ein Symbol der Macht. Wirbler hatte solche Orte schon früher gesehen und gelernt, sie nicht zu unterschätzen.
Für Inselbewohner waren die beiden Fußgänger ziemlich groß. Ihre Hemden, Hosen und Stiefel waren im praktischen, anschmiegsamen Fey-Stil angefertigt. Wirbler ließ sich tiefer sinken und blieb vor Überraschung mitten in der Luft stehen.
Der Sohn des Königs war hier. Der Junge, den Wirbler eben noch im Palast gesehen hatte. Nur, daß dieser Junge ein schmaleres Gesicht und rundere Augen hatte und völlig erschöpft aussah. Das Mädchen neben ihm war noch nicht im vollen Besitz ihrer magischen Kräfte. Sie war in die Farben von Rugars Infanterie gekleidet. Auf der einen Seite trug sie ein Messer in einer Scheide, auf der anderen ein Schwert.
Sie mußte auf den Inselbewohner, der an der Brücke durchs Gebüsch gekrochen war, eingestochen haben. Hatte der Inselbewohner etwa den Fey ermordet?
Aber das ergab keinen Sinn. Es hätte eine gewisse Zeit gedauert, wenn das Mädchen den Inselbewohner angegriffen hätte, nachdem er den Fey getötet hatte. Wie hätte der Junge sich währenddessen umziehen, vom Palast hierherlaufen und das Mädchen eine so weite Strecke begleiten können?
Und wenn der Junge einen Flugzauber besaß, warum verschwendete er dann seine Kraft und ging ein derartiges Risiko ein, indem er zu Fuß am Tabernakel vorbeiging?
Wirbler fuhr nervös mit der Zunge über die
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