Fey 06: Die Erben der Macht
Wachen besetzt. Sie konnten nichts gehört haben, aber sie wollten grundsätzlich nicht, daß die Gefangenen sich unterhielten.
Wachsoldaten strömten ins Zimmer. Alle trugen saubere Uniformen, manche von ihnen Schwerter. Es war die Sorte Fey, die Nicholas am meisten beunruhigte. Sie hatten lange Finger mit noch längeren Nägeln. Fußsoldaten, die mit einer einzigen Berührung töten konnten. Nicholas unterdrückte ein Schaudern. Er hatte sie schon früher bei der Arbeit gesehen.
Fünfundzwanzig Soldaten betraten das Zimmer und reihten sich ringsum an den Wänden auf. Wahrscheinlich sollte er sich geehrt fühlen, dachte Nicholas. Offensichtlich betrachtete der Schwarze König Nicholas und seine Familie als ernsthafte Bedrohung.
Nicholas ging zu Sebastian und legte die Arme um den Jungen. Ganz gleich, was Arianna vorhatte, es gab keine Garantie, daß Sebastian sich schnell genug bewegte, um zu entkommen. Es gab nicht einmal eine Garantie, daß nicht doch einer der Soldaten des Schwarzen Königs Arianna tötete.
Solanda hatte Rugar getötet, ohne etwas befürchten zu müssen. So etwas konnte sich wiederholen.
Sobald Nicholas Gelegenheit dazu hatte, würde er Arianna ausreden, überhaupt etwas zu unternehmen. Er würde versuchen, mit dem Schwarzen König zu verhandeln. Wenn das fehlschlug, mußte er eben abwarten, bis der Mann eines natürlichen Todes starb, und hoffen, daß seine Kinder die richtige Wahl trafen. Zu guter Letzt würden doch sie die Fey anführen, zu guter Letzt würde die Blaue Insel in den Händen der Familie bleiben.
Und das war alles, worauf es jetzt ankam, dachte er.
Alles andere war ohnehin längst verloren.
38
Wirbler schwebte über der leeren Straße. Allmählich erlahmten seine Flügel. So viel war er in Nye nicht geflogen. Er bezweifelte sogar, in seinem ganzen Leben so viel geflogen zu sein.
Und nun war auch noch Cinder spurlos verschwunden.
Er hätte sie nicht verlassen dürfen. Er hätte es besser wissen müssen. Er wußte so vieles besser. Und doch hatte er es getan. Er hatte geglaubt, sie könnte seine Anweisungen nicht mißverstehen, sie würde begreifen, wie wichtig sie waren, sie würde wenigstens eine Spur, einen Hinweis hinterlassen.
Aber er hatte so überheblich und anmaßend mit ihr geredet. Natürlich würde er den Urenkel und seine Begleiter finden, hatte er behauptet. Er wüßte, wohin sie geflohen seien.
Jetzt war er die Straße zweimal hinauf und hinunter geflogen, hatte alle umliegenden Gehöfte abgesucht und hatte doch nichts entdeckt.
Die Dämmerung warf blaue Schatten über das Land und machte es schwer, überhaupt irgend etwas zu erkennen. Wirbler konnte keine Einzelheiten mehr unterscheiden, erkannte nicht mehr, wo die Straße begann und wo sie endete.
Er konnte nichts sehen. Und die Fußsoldaten konnten jeden Augenblick eintreffen, um ihren Gefangenen festzunehmen.
Es gab keinen Gefangenen.
Wirbler würde Rugad sein Versagen eingestehen müssen.
Wir hatten deinen Urenkel, und wir haben ihn wieder verloren.
Schon bei dem bloßen Gedanken schauderte Wirbler.
Er flog tiefer. Etwas, das aussah wie eine Spur, zeichnete sich in den ordentlichen Reihen der Maisstauden ab. Wirbler war dieser Spur zwar schon einmal vergeblich gefolgt, wollte es aber noch einmal versuchen. Er war kein Versager. Rugad würde ihn nicht töten wie die anderen Versager.
Wirbler würde es nicht zulassen.
Er zögerte. Trotzdem mußte er das Schlimmste annehmen. Der Junge war von Schwarzem Blut. Was, wenn er wirklich so wertvoll war? Was, wenn er Cinder gesehen und erkannt hatte? Weißhaar hatte erzählt, der Junge sei bei Irrlichtfängern aufgewachsen. Er mußte wissen, wie man sie austrickste.
Wie konnte jemand einem Irrlichtfänger entkommen?
Blicke unauffällig vom Himmel herab. Versteck dich. Geh hinein. In ein Schattenland konnten sie sich nicht zurückgezogen haben, denn das würde jeder Irrlichtfänger sofort erspähen.
Die Soldaten sollten ruhig noch ein bißchen weitersuchen. Dann konnte Wirbler sie zurückbeordern und ihnen die Schuld, daß sie Gabe nicht gefunden hatten, in die Schuhe schieben.
Auf diese Weise konnte er sich, falls es nötig war, vielleicht noch einen Aufschub verschaffen.
Das Maisfeld war seine einzige und größte Chance.
Er schwebte tiefer und verfluchte die zunehmende Dämmerung. Im Zwielicht glich der umgeknickte Mais einem Fluß aus Blut inmitten eines Ozeans aus Mondschein. Wirbler wußte bereits, was auf der anderen Seite des
Weitere Kostenlose Bücher