Fey 06: Die Erben der Macht
Angriff.
Und ihr Zuhause würde nie wieder dasselbe Zuhause sein.
Vor wenigen Tagen noch hatte sie sich über ihr Geburtsmal, ihr Aussehen und die Tatsache, daß die Leute sie anstarrten, Sorgen gemacht. Diese Sorge kam ihr mit einem Mal völlig bedeutungslos vor. Die meisten Menschen, die sie angestarrt hatten, waren vermutlich nicht einmal mehr am Leben. Und ihr Geburtsmal, das sie als Gestaltwandlerin zeichnete, konnte vielleicht die Übriggebliebenen retten, wenn sie es zuließ.
Und das Mal nicht verbarg, wie ihr Vater es wollte.
Ganze Kolonnen von Fey marschierten aus westlicher Richtung auf die Brücke zu. Sie waren auf dem Weg zum Tabernakel. Ihr Urgroßvater war ein schlauer Fuchs. Die erste Invasion war durch den Tabernakel verhindert worden. Also würde er jetzt den gefährlichen Tabernakel vernichten, bevor die Inselbewohner seine Ankunft überhaupt begriffen hatten.
Die Fey verhandelten nicht, wie es ihr Vater gewünscht hatte. Sie waren entschlossen, alles an sich zu reißen. Zu erobern.
Ihre Familie mußte Widerstand leisten. Mit einem Mal schienen sie die Unterlegenen zu sein, ohne Weihwasser und den Vorteil der Überraschung auf ihrer Seite. Sie mußten sich ihre Vorteile erst erkämpfen.
Arianna flog wieder in nördlicher Richtung zum Palast. Eine weitere Kolonne Fey-Soldaten marschierte durch die Straßen von Jahn und riß die Einwohner aus den Betten. Erst wollte Arianna hinunterfliegen, besann sich dann aber. Sie war ganz allein: Sie konnte unmöglich alle Menschen dort unten retten. Sie mußte jetzt ihrem Vater Bericht erstatten und nicht die Hoffnung verlieren.
Sie hatte der Schamanin versprochen, niemals ihren Urgroßvater zu verletzen.
Daran würde sie sich auch halten.
Aber sie hatte kein solches Versprechen hinsichtlich seiner Truppen abgegeben.
Das hier war ihre Insel, und er hatte kein Recht, sie zu zerstören.
Nicht das geringste Recht.
16
Rugad stolzierte durch sein eigenes Schattenland. Es war das zweitgrößte Schattenland, das er auf der Blauen Insel gebaut hatte, etwa auf halber Strecke zwischen dem alten Schattenland seines Sohnes und Jahn, ein perfekter Platz für ein Lager. Erst als er sein eigenes Schattenland betrat, wurde ihm klar, wie unbehaglich er sich in dem zerstörten gefühlt hatte.
Genau so hatte ein militärisch aufgebautes Schattenland auszusehen. Ringsum entlang der Wände waren Zelte aufgebaut. Im Zentrum des Schattenlandes hatte man ebenfalls mehrere Zelte in langen, schnurgeraden Reihen aufgeschlagen, gerade weit genug auseinander, um zwischen ihnen hindurchzugehen. In diese Zelte konnte man sich ungestört zurückziehen. Sie bestanden aus einem besonderen Material, das Rugad in Nye entdeckt hatte; es saugte das Grau des Schattenlandes auf und brachte ein wenig Farbe in dessen trübes Inneres. Rot war zwar nur als schwaches Rosa zu erkennen, leuchtendes Grün als verblichenes Graugrün, aber die Farben machten den Ort immerhin ein bißchen freundlicher und hielten die Moral der Truppe aufrecht.
Jeder Krieger war selbst für Essen und Versorgung verantwortlich. Die Belegschaft des Schattenlandes richtete sich ganz nach den Kampfhandlungen draußen. Manchmal schliefen die Anführer hier. Manchmal die Infanterie.
Aber niemand versteckte sich. Dazu waren sie nicht hergekommen, auch wenn Rugads Sohn das Schattenland als Zuflucht benutzt hatte.
Im Augenblick befand sich hier ein Großteil der Krieger, die Rugars Schattenland zerstört hatten. Sie ruhten sich aus, bevor sie sich erneut in den Kampf um Jahn stürzten. Schon vor langer Zeit hatten die Fey gelernt, daß man Kriege nur dann gewinnt, wenn man über so viel Soldaten verfügte, daß ein Teil der Truppe sich erholen konnte, während der andere Teil kämpfte. Gut ausgeruhten Truppen unterliefen keine Fehler. Gut erholte Truppen töteten nur den Feind, nicht die eigenen Leute.
Rugad hatte schon unzählige Male miterlebt, wie erschöpfte Soldaten im Kampfgebiet eine Bewegung wahrnahmen, sofort schossen und auf diese Weise einen der ihren getötet hatten.
Die Leute, die im letzten Kampf eingesetzt worden waren, machten einen erschöpften Eindruck. Rugad wußte, daß ihre Erschöpfung nicht nur körperlich, sondern auch geistig bedingt war. Es bedurfte großer Disziplin, andere Fey zu töten, aber selbst mit größter Disziplin war dem einen Gedanken nicht beizukommen: Was, wenn ich an ihrer Stelle gewesen wäre?
Auf der Suche nach Gelô ließ Rugad den Blick durch die Zeltreihen
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