Fey 06: Die Erben der Macht
errichtete er ein Schattenland nach dem anderen, eine geschlossene Reihe von Labyrinthen, in denen jeder, der gewaltsam einzudringen versuchte, sich für immer verfing oder zurückgestoßen wurde.
Als Gabe wieder in sich selbst zurückkehrte, beobachtete ihn Coulter immer noch. »Tu das nicht«, flüsterte Coulter. »Du brauchst mich.«
Die Bitte rührte Gabe nicht mehr. »Nein«, entgegnete er. »Ich brauche dich nicht. Ich brauche niemanden mehr.«
Sein Blick wanderte wieder zu Leen. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihre Haut fleckig und die Lippen aufgerissen. »Kommst du mit?«
Sie nickte.
»Gut.« Gabe drehte sich um und verließ das Maisfeld mit entschlossenen Schritten. Er wartete nicht, ob Leen ihm folgte.
»Gabe!« rief Coulter ihm nach. »Gabe, warte doch!«
Das Entsetzen in Coulters Stimme war so groß, daß Gabe spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Aber er blieb nicht stehen. Er wartete nicht. Wenn er seinem Urgroßvater begegnen mußte, dann war er dazu bereit. Aber er würde nicht zulassen, daß Sebastian etwas zustieß.
Sebastian war alles, was er noch hatte.
15
Arianna hüpfte mit angelegten Flügeln über den schmalen Sims. Dort war es schmutzig. Staub und Vogelkot lagen auf der Fensterbank und in dem schmalen Gelaß zwischen Dach und Mauerwerk. Dieser Teil des Nordturms wurde seit langem nicht mehr benutzt. Sie war sich nicht sicher, ob außer ihr noch jemand dieses Gelaß kannte.
Sie hatte es als junges Mädchen entdeckt. Zwischen den Ziegeln hatten die Vögel ihre Nester gebaut. Mäuse hatten sich häuslich in den Löchern am Boden eingerichtet. Über allem hing ein muffiger Geruch. Aber das war Arianna gleichgültig. Sie ließ ein altes Gewand auf dem Boden zurück und Verwandelte sich.
Der Sims bestand aus einer kleinen Ausbuchtung zwischen den Steinen und lag im Schutz des darüberhängenden Daches verborgen. Mehr als einmal war Arianna anderen Vögeln dadurch entkommen, daß sie hierhergeflogen war. Die Ausbuchtung war nicht zu sehen, wenn man sich nicht direkt davor befand. Die meisten Vögel waren nicht intelligent genug, um nach einer solchen Stelle zu suchen.
Aber diese Vögel vor dem Palast waren anders.
Sie hatte es jetzt mit einem gefährlicheren Feind zu tun.
Sie hatte wieder ihre Rotkehlchengestalt angenommen. Zwischen den Fey gab es auch einige Rotkehlchen, aber es waren zu wenige, um sie zu bemerken. Sie hoffte, die Fey würden sie für einen richtigen Vogel halten. Das setzte aber voraus, daß sie sich einen Plan zurechtlegte. Flog sie direkt aus dem Palast, könnte jemand Verdacht schöpfen, vielleicht nicht, daß sie eine Gestaltwandlerin war, aber daß sie in irgendeiner Verbindung zum Palast stand. Solanda hatte ihr erklärt, daß in manchen Kulturen Vögel als Boten benutzt wurden. Man brachte ihnen bei, mit einer Nachricht am dünnen Beinchen zu einem bestimmten Ort zu fliegen.
Wenn Solanda an solche Dinge glaubte, taten es die anderen Fey erst recht.
Arianna spähte vorsichtig hinab. Von ihrem Standpunkt aus konnte sie nicht sehen, in welche Richtung die anderen Vögel blickten. Sie war jedoch zu klug, um anzunehmen, daß die Vögel sie nur deshalb nicht sehen konnten, weil sie selbst die Vögel nicht sah.
Zu ihren Füßen streckte sich die Stadt aus. Im Westen stiegen große schwarze Rauchwolken zum Himmel auf, und auch im Süden erhoben sich Rauchsäulen. Sie befürchtete, daß der Rauch aus der Gegend des Tabernakels kam. In den Straßen erkannte sie Leute, aber die Stadt machte einen sonderbar stillen Eindruck. Sie vernahm weder Rufe noch Schreie oder Waffengeklirr.
Das gefiel ihr nicht. Sie hatte sich immer vorgestellt, daß es im Krieg laut zuging.
Vorsichtig schob sie sich in die Mitte des kleinen Simses. Sie mußte jetzt geradeaus fliegen, als sei sie mitten im Flug über den Palast und nicht aus ihm herausgekommen. Das hatte sie noch nicht oft geübt. Sie mußte dabei schon mit Höchstgeschwindigkeit starten und diese Geschwindigkeit auch beibehalten, als sei das die natürlichste Sache der Welt.
Es gab hier keine echten Vögel. Das störte sie. Sie wußte nicht genau, ob sie wegen der Fey weggeblieben waren oder ob die Fey sie verjagt hatten.
Sie breitete die Flügel aus. Eine leichte Brise strich am Palast entlang und zauste ihre Federn. Das würde ihren Start noch erschweren. Sie mußte vom ersten Augenblick an ihre ganze Kraft einsetzen. Kein Flattern, keine Fehler.
Sie wartete, bis der Wind abflaute, hüpfte vom
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