Fey 06: Die Erben der Macht
werfen.
Sie sahen nur auf die Vögel am Tor.
Nicholas blickte ebenfalls zu ihnen hinüber. Falken, Raben, Adler und kleinere Vögel wie Rotkehlchen, Zaunkönige und Spatzen. In dem bunten Gewirr befanden sich auch einige Vögel, die er nicht kannte, Vögel, die größer waren als zehnjährige Kinder, mit leuchtendbuntem Gefieder und Schnäbeln, die so lang waren wie seine Hand und dicker als sein Arm.
Nicholas hielt den Atem an. Sebastians Griff um seinen Arm wurde fester.
Die Männer gingen Seite an Seite. Flügel schlugen und wurden wieder angelegt. Gefieder bauschte sich auf wie unter Windstößen, doch die Blätter an den Ästen waren reglos. Es ging kein Wind. Es waren nur die Wachen, die die Vögel in Unruhe versetzt hatten.
Die kleinen Blasen, die in das Fensterglas eingeschlossen waren, verwehrten eine klare Sicht. Nicholas ging so nahe wie möglich an die Scheibe, die Fäuste in Hüfthöhe auf das Fensterbrett gestützt.
Die Wachen hatten jetzt den Hof durchquert und die erste Vogelreihe erreicht.
Plötzlich, wie auf ein stummes Kommando, erhob sich ein Vogelschwarm und griff den Wachposten an, der ihnen am nächsten war. Sie stürzten sich auf ihn, hackten krächzend auf ihn ein, rissen ihm mit den Schnäbeln die Haut auf. Blut strömte zu Boden.
Sebastian stöhnte auf und drehte sich um.
Nicholas konnte den Blick nicht abwenden.
Ein weiterer Schwarm war fast gleichzeitig aufgeflogen und umkreiste den zweiten Wachposten, ohne ihn anzugreifen. Blut spritzte auf den Mann, aber er starrte unbewegt geradeaus.
Vielleicht hatte Nicholas sich geirrt. Vielleicht funktionierte das besondere Training, das er angeordnet hatte, zumindest bei einigen der Wachposten.
Der Angriff vollzog sich in gespenstischer Stille. Der Wachtposten schrie nicht, und die Vögel gaben gleichfalls keinerlei Geräusch von sich. Der Posten hob eine mit Vögeln bedeckte Hand. Hautfetzen flogen in alle Richtungen. Aus dem Knäuel schwang sich eine Taube nach oben und flog zu Nicholas’ Fenster herauf. Der Fey auf ihrem Rücken hielt einen eigroßen Gegenstand in der Hand.
Es war ein Augapfel.
Als der Fey an Nicholas vorüberflog, hielt er das Auge hoch und grinste. Es war fast so groß wie der Tierreiter selbst.
Es war eine weibliche Tierreiterin. Ihre bloßen Brüste waren blutbesudelt. Nicholas zwang sich, sie mit unbeweglichem Gesichtsausdruck zu beobachten.
Als sie sah, daß Nicholas nicht reagierte, warf sie den Augapfel mit solcher Wucht gegen die Scheibe, daß er beim Aufprall zerplatzte.
Unwillkürlich trat Nicholas einen Schritt zurück.
Sebastian krümmte sich bei diesem Geräusch zusammen und bedeckte das Gesicht mit den Händen.
Die Fey-Frau brach in Gelächter aus.
Wie ein Pfeil ließ sich die Taube im Sturzflug nach unten fallen und verschwand aus Nicholas’ Sicht.
Nicholas trat an ein anderes Fenster und blickte hinunter.
Der Wachposten auf der linken Seite befand sich immer noch mitten im Vogelschwarm. Sein Kamerad lag mit ausgestreckten Gliedern im Hof. Er war bereits tot. Sein Gesicht war bis auf die Knochen zerfetzt, eine einzige blutige Masse, die nicht mehr als menschliches Gesicht zu erkennen war. Die Uniform war zerrissen und sein Leib vom Herz bis zu den Gedärmen ausgehöhlt.
Nicholas schluckte. Erst einmal hatte er Schlimmeres erlebt.
Als Jewel gestorben war.
Und das war nur schlimmer gewesen, weil er sie liebte.
Die Vögel und die Fey auf ihren Rücken starrten jetzt alle zu ihm hinauf. Der zweite Schwarm trieb den Posten zum Eingang des Palastes zurück. Nachdem er eingetreten war, ließen sich die Vögel vor der Tür nieder.
Die Botschaft war unmißverständlich.
Die Vögel würden jeden angreifen, der versuchte, den Palast zu verlassen. Aus Gründen, die Nicholas nicht kannte, mußten sie alle im Palast ausharren.
Er hatte nicht vor zu warten, bis er den Grund dafür erfuhr.
Sebastian hob den Kopf. Er starrte auf das Blut, das langsam über die Fensterscheibe rann. »O … Papa …«, sagte er und schauderte.
Nicholas berührte das befleckte Glas. Es war kühl, glatt und trocken. Noch hatte ihn das Blut nicht berührt.
Aber es würde ihn berühren.
Unausweichlich.
»Das hier war nur der Anfang, Sebastian«, sagte Nicholas und wünschte, es wäre nicht wahr.
23
Wirbler hatte ganz vergessen, wie anstrengend so ein Krieg war.
Seit er Rugads Botschaft an den Palast weitergegeben hatte, war er ununterbrochen geflogen. Nachdem er Rugad Bericht erstattet hatte, war ihm
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