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Fey 06: Die Erben der Macht

Fey 06: Die Erben der Macht

Titel: Fey 06: Die Erben der Macht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristine Kathryn Rusch
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konnte.
    So viele Visionen. Etwas sehr Wichtiges mußte sich ereignet haben. Gabe klopfte den Schmutz von seinen Kleidern und erhob sich. Der Schwindel überkam ihn so stark, daß er beinahe gefallen wäre, hätte ihn Leen nicht am Arm gepackt.
    »Wirst du es überhaupt bis Jahn schaffen?« fragte sie.
    »Ich habe keine andere Wahl«, entgegnete er und fragte sich, ob das wirklich stimmte. Die Visionen hätten alles ändern können. Aber er hatte keine Möglichkeit, es herauszufinden.
    Er wußte nur, daß er Gesehen hatte, wie Sebastian starb. Ein zweites Mal starb. Sie waren nicht mehr miteinander verbunden. Er konnte nicht in Sebastians Körper gleiten, damit Sebastian sich schneller bewegte. Bei der Ankunft des Schwarzen Königs mußte Gabe selbst an Sebastians Seite sein. Und irgend etwas sagte Gabe, daß er bis dahin nicht mehr viel Zeit hatte.

 
30
     
     
    Sie stemmte sich mühsam und zitternd vom schneebedeckten Boden hoch. Ihr Mund war ausgedörrt, das Gewand mit Speichel durchtränkt. Ihr Körper hatte einen tiefen Abdruck im Schnee hinterlassen.
    Es war kalt und klar. Die Sonne wärmte nicht, war nicht einmal freundlich. Sie spendete aber ein besonders helles Licht, das der Schnee reflektierte. Sie konnte bei diesem Licht nicht weit reisen, ohne ›schneeblind‹ zu werden, wie es die Einheimischen nannten.
    Die Schamanin wußte nicht genau, wie sie sich so weit von ihrer Höhle entfernt haben konnte. Sie hatte tiefe Spuren im Schnee hinterlassen. Sie war zu Fuß unterwegs gewesen. Noch nie war sie während einer ihrer Visionen irgendwohin gelaufen.
    Sie hob eine zitternde Hand ans Gesicht. Lippen und Wangen waren von der Kälte bereits aufgesprungen. Die Bewohner des nahen Dorfes hatten sie gewarnt, daß die Bergkette mit dem Namen ›Die Augen des Roca‹ erbarmungslos war. Erst jetzt begriff sie, wie erbarmungslos.
    Hätten die Visionen noch länger gedauert, wäre sie womöglich erfroren.
    Die Augen des Roca waren kahl und weitaus höher als die südlicher gelegenen Schneeberge, behaupteten jedenfalls die Einheimischen. Genau wie die Schneeberge waren auch ihre Gipfel immer schneebedeckt, aber im Unterschied zu dem südlichen Höhenzug galt die ewige Schneedecke hier als unfreundlich. Daß man die Bergkette nach dem heiligsten Mann der Insel benannt hatte (den man hier fast als eine Art Gott betrachtete), war kein gutes Zeichen, sondern ganz im Gegenteil eine Warnung. Die Augen des Roca beobachten dich, lautete eine Redensart der Einheimischen, und der mythische Bergzug schien sie stärker zu beunruhigen als die Fey, die sich mitten unter ihnen befanden.
    Dafür war die Schamanin dankbar. Sie bezweifelte, daß der Schwarze König schnell in diesen unwegsamen Teil der Insel vorstoßen konnte, und hoffte, daß sie selbst, wenn es soweit war, nicht mehr hier sein würde. Seit ihrem letzten Aufenthalt im Palast hatte sie die Höhle Gesehen, die ihr als Versteck diente. Aber sie hatte nicht Gesehen, wie sie selbst mitten in einer Serie von Visionen daraus hervortaumelte.
    Ihre Füße waren kalt. Sie zwang sich, aufzustehen und durch den Schnee zu der Höhle zurückzustapfen. Das Lagerfeuer am Höhleneingang flackerte immer noch. Also konnte sie nicht lange weggewesen sein. Sie zog die nassen Kleider aus und legte sie zum Trocknen in die Nähe des Feuers. Dann hüllte sie sich in die Decken ein, die sie mitgebracht hatte. Sie füllte ihren Kochtopf mit Schnee und hängte ihn an den Draht über dem Feuer. Sie würde sich einen Wurzeltee zubereiten, sich aufwärmen und über alles nachdenken, was sie gerade Gesehen hatte.
    Eine unangenehme Aufgabe.
    In der kurzen Zeitspanne hatte sie mindestens fünfzig Visionen gehabt. Eine solche Serie hatte sie noch nie erlebt. Etwas außerordentlich Bedeutsames war geschehen, das den vorhergesehenen Ablauf der Zukunft jäh unterbrach und fünfzig neue Wege offen ließ.
    Zum ersten Mal, seit sie das Schattenland verlassen hatte, wünschte sich die Schamanin Gesellschaft, wünschte, es wäre jemand hier, mit dem sie über ihre Visionen reden könnte.
    Denn die letzte Vision hatte sie zutiefst verängstigt.
    Sie zog die Knie an die Brust und legte die Stirn darauf. Sie zitterte heftig, obwohl ihr bereits wärmer geworden war. Vielleicht zitterte sie nicht vor Kälte. Vielleicht zitterte sie vor lauter Furcht.
    Immer noch standen ihr die Bilder vor Augen. Alle Visionen waren von großer Deutlichkeit, aber die letzte war blutbefleckt. Wahre Blutströme, die nicht versiegen

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