Fey 06: Die Erben der Macht
weiß ich nicht.«
»Dann«, erwiderte er, »sollten wir uns so schnell wie möglich mit ihnen beschäftigen. Wir wollen nicht, daß eine dieser Visionen nur deshalb eintrifft, weil wir sie nicht beachtet haben. Wenn wir schon früher so gehandelt hätten, wäre deine Mutter noch am Leben.«
»Aber was wäre dann mit mir?« flüsterte Arianna.
Nicholas legte seine Hände um ihr Gesicht. »Du bist jetzt hier«, antwortete er, »du und Sebastian. Und soweit es mich betrifft, ist das am wichtigsten.«
»Wichtiger als die Blaue Insel?« fragte Arianna.
Er blickte sie einen Augenblick lang durchdringend an. Sein Gesichtsausdruck war plötzlich düster. »Ich hoffe, daß ich das niemals herausfinden muß.«
29
So hatte er sich noch nie gefühlt: ausgehöhlt, leer und zugleich so zornig, daß ihn ein Stein im Schuh in helle Wut versetzte. Leen erging es offenbar genauso. Sie hielt sich fern von ihm, während sie schweigend in Richtung Jahn gingen.
Gabe hatte beschlossen, die Straße zu benutzen. Wahrscheinlich wußte sein Urgroßvater bereits, daß er sich auf einem Bauernhof versteckt hatte. Wenn die Fey nach ihm suchten, würden sie sich auf den Gehöften umschauen. Außerdem konnten sie ihm nichts tun, selbst wenn sie ihn finden sollten. Er wollte natürlich nicht, daß sie ihn aufspürten, weil er dann Sebastian nicht mehr helfen konnte. Aber er machte sich keine Sorgen für den Fall, daß es ihnen doch gelingen sollte. Er wußte, daß er dann in diesem Raum bei seinem Urgroßvater sein würde, und vielleicht konnte es Sebastians Leben retten, wenn die Fey ihn fingen.
Gabe würde sich jedenfalls nicht noch einmal verstecken. Die Tage, als er sich noch im Schattenland verborgen hatte, waren endgültig vorüber.
In der Tageshitze lag die Straße verlassen vor ihnen. Auf den Feldern waren einige Bauern zu sehen, aber die meisten hatten sich in ihre Häuser zurückgezogen, um ihre Arbeit in der kühleren Abendluft fortzusetzen. Gabe bereute, daß er nicht mehr Verpflegung und Wasser mitgenommen hatte. Er hatte das ganze Unternehmen nicht durchdacht. Allein das Adrenalin und sein Zorn trieben ihn an. Seit fast zwei Tagen hatte er nicht mehr geschlafen.
Bei Tage sah die Straße ganz anders aus als nachts. Freundlicher, als sei es noch nicht zum Schlimmsten gekommen. Betrug um Betrug, und der schrecklichste bestand darin, daß Coulter Gabes Verbindung zu Sebastian geschlossen und sich geweigert hatte, sie wieder zu öffnen. Gabe hatte mehrmals versucht, sie auf eigene Faust zu öffnen, aber bis jetzt war es ihm noch nicht geglückt.
Aber er würde es schon schaffen.
Ohne die Verbindung fühlte er sich sehr einsam. Er war zwar schon oft allein in sich selbst gewesen, eigentlich war das sein Normalzustand, aber noch niemals hatte man ihm die Möglichkeit genommen, an seinen Verbindungen entlangzureisen. Früher hatte er immer gewußt, daß er sich jederzeit jemandem zuwenden konnte.
Und dabei hatte er noch nicht einmal an den Verlust seiner Eltern gedacht. Er konnte sich ein Leben ohne Niche und Wind nicht einmal vorstellen. Und daß er nicht dagewesen war, um sie zu beschützen …
Gabes und Leens Stiefel knirschten auf der schmutzigen Landstraße. Sie waren allein hier draußen, im Sonnenschein und in der Hitze, an einem Tag, den Gabe normalerweise in vollen Zügen genossen hätte, weil er solche Tage nur selten erlebte. Doch jetzt fühlte sich alles so ausgehöhlt und unwirklich an, als erlebte er es nicht selbst, sondern beobachtete sich nur dabei. Er fühlte sich distanziert, wie losgelöst von der Wirklichkeit, obwohl die Wut in ihm nur allzu wirklich war. Und auch die Traurigkeit, wenn er sich dieses Gefühl gestattete.
Er hatte den Eindruck, diese Wanderung würde niemals enden. Er war sich nicht einmal sicher, ob sie ihr Ende fand, wenn er sein Ziel erreicht hatte. Er würde sich durch die Armee seines Urgroßvaters bis zum Palast vorarbeiten müssen. Ohne sich von seinem Zorn übermannen zu lassen.
War das überhaupt möglich? Er bezweifelte es.
Er wandte sich zu Leen um. Ihr Gesichtsausdruck war entschlossen und finster. Ihre Haut sah grau aus, und die junge Frau schien um Jahre gealtert. Dieser Tag hatte auch auf ihrem Gesicht unauslöschliche Spuren hinterlassen. Sie würden niemals wieder dieselben sein. Er wußte es. Ob Leen es auch wußte?
Vielleicht war es besser zu reden. Gemeinsam darüber nachzudenken, wie sie Jahn durchqueren sollten, ohne dabei auf die Armee des Schwarzen
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