Fey 07: Die Augen des Roca
»Manchmal beneide ich dich darum, daß du eine Fey bist.«
Diese Bemerkung brachte die Schamanin sichtlich aus der Fassung. Ihre Wangen färbten sich rot. »Wegen der Visionen?« fragte sie.
Nicholas schüttelte den Kopf. »Weil euer Weg durch das vorgezeichnet ist, was ihr seid. Du wirst immer eine Visionärin sein und meine Tochter eine Gestaltwandlerin.«
Innerhalb der letzten zwei Wochen war aus Nicholas, dem König der Blauen Insel, ein Mann geworden, der sein Land verloren hatte. Der einstige König war jetzt bestenfalls noch Soldat.
Im schlimmsten Fall ein Mörder.
»Du wirst immer ein König sein«, tröstete die Schamanin.
»Ein König ohne Land.« Nicholas faltete die Hände über den Knien. »In den letzten beiden Tagen habe ich viel nachgedacht. Mir bleiben nicht mehr viele Möglichkeiten. Ich kann mich ergeben, Arianna in die Hände des Schwarzen Königs fallenlassen und beobachten, wie er sie nach seinem Vorbild formt. Das wird er bestimmt tun. Ich habe noch niemals einen Mann mit solcher Willenskraft getroffen.«
»Und den vollentwickelten Fähigkeiten eines alternden Visionärs«, ergänzte die Schamanin hinzu. »Verbindungen, Kontrolle, Konstrukte. Arianna würde nicht einmal wissen, wodurch sie sich verändert.«
Nicholas’ Herz pochte. Soeben hatte die Schamanin das bestätigt, wovor er sich am meisten fürchtete. Wenn er sich ergab, würde er Arianna verlieren.
»Ich könnte gegen ihn kämpfen«, fuhr Nicholas fort. »Aber meine Armeen sind dezimiert und meine Leute haben das Vertrauen in mich verloren, seit ich Jewel geheiratet habe. Sie glauben, daß ich auf der Seite der Fey stehe, und wir haben nicht genügend Zeit, um sie vom Gegenteil zu überzeugen.«
Die Schamanin wartete. Sie war eine ausgezeichnete Zuhörerin. Die beste, die Nicholas je erlebt hatte.
»Ich könnte hierbleiben«, überlegte er weiter, »und meine Tochter verstecken. Du könntest nach Gabe suchen und ihn zu mir bringen. Die Blaue Insel müßte sich selbst verteidigen, soweit das möglich ist. Ohne seinen Urenkel kann der Schwarze König nicht nach Leutia weiterziehen. Wir könnten ihn eine Zeitlang festhalten, aber irgendwann würden wir nachlässig werden. Damit hätten wir das Spiel verloren.«
»Und wenn du selbst nach Leutia gingest?« schlug die Schamanin vor. »Du könntest aus dem Exil regieren, eine Armee zusammenstellen und zur Blauen Insel zurückkehren.«
Daran hatte Nicholas auch schon gedacht. In den letzten beiden Tagen hatte er diese Möglichkeit besonders gründlich in Erwägung gezogen. Aber er wußte nichts über den Kontinent hinter der Blauen Insel. Sein Volk hatte nur Handelsbeziehungen mit den Nye auf Galinas unterhalten, und das noch vor seiner Zeit als König.
»Die Blaue Insel in den Händen des Schwarzen Königs zurücklassen? Den Tod auf See riskieren?« Nicholas lächelte. »Hier ist meine Heimat. Dieser Plan ist sogar für mich zu waghalsig.«
Die Sonne war höher gestiegen, ohne dabei mehr Wärme zu spenden. Das Licht war noch immer rötlich, als schienen die Strahlen durch ein blutiges Tuch. Die Schamanin zog die Decke fester um sich. Auch Nicholas spürte die Kälte.
»Du hast einen Ausweg gefunden«, sagte sie. Das war keine Frage.
»Ich glaube ja«, erwiderte Nicholas. »Etwas anderes fällt mir einfach nicht ein. Vielleicht deine Vision …«
»Laß erst deinen Plan hören«, entgegnete die Schamanin.
Nicholas holte tief Luft. Erst jetzt, als er davon sprechen sollte, kam ihm seine Idee unrealistisch vor. Er neigte den Kopf und fuhr sich mit der Hand durch das Haar. Seine Finger fühlten sich eiskalt an.
»Ich werde von hier weggehen«, fing er schließlich stockend an. »Du sollst dich um Ariannas Sicherheit kümmern.«
»Willst du sie nicht mitnehmen?« fragte die Schamanin.
»Das geht nicht«, sagte Nicholas. »Sie ist zu impulsiv.«
Die Augen der Schamanin weiteten sich überrascht. Sie wußte bereits jetzt, was er sagen wollte. Angst und Mißfallen waren nur zu deutlich auf ihrem Gesicht zu lesen. Nicholas hatte es schon einmal versucht, ohne etwas zu bewirken.
Abgesehen davon, daß er Sebastian dabei verloren hatte.
Was wiederum nichts mit dem Schwarzen Thron und dem Fluch zu tun hatte. Oder doch?
»Es ist unmöglich, Nicholas«, protestierte die Schamanin.
»Einer muß es versuchen«, antwortete Nicholas. Er streckte die Hand aus, um sie im Sonnenschein zu wärmen.
»Du hast keine Zauberkraft«, wandte die Schamanin ein.
»Ich brauche keine
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