Fey 09: Die roten Klippen
Kopf, um zu unterstreichen, wie ernst es Jewel damit war. Arianna blinzelte mehrere Male und nickte dann. Nicholas atmete erleichtert aus.
Arianna sah ihn an. Die Tränen standen ihr immer noch in den Augen, aber sie waren nicht herausgerollt. »Haßt du mich?« flüsterte sie mit aller Melodramatik, die er inzwischen mit ihr verband. Von Kindesbeinen an hatte sie auf ihrer Gefühlsskala die Extreme bevorzugt. Er hatte das immer Solanda zugeschrieben, aber womöglich war er selbst schuld daran, weil er niemals den Mut aufgebracht hatte, so mit ihr zu reden, wie es Jewel soeben getan hatte.
»Nein«, antwortete er und streckte ihr die Hand entgegen. Sie kam auf ihn zu, nahm die Hand und setzte sich neben ihn, wobei sie ihr Gesicht in seinem Ärmel verbarg. Vorsichtig nahm er den Arm zur Seite, zog sie näher an sich, damit sie sich an ihn kuscheln konnte.
Sie war so zerbrechlich. So dünn. So müde.
Jewel betrachtete ihn amüsiert. »Die Fey haben nicht viel dafür übrig, ihre Kinder zu verzärteln«, sagte sie, aber er erkannte, daß ihre Reaktion nicht einem Tadel, sondern ihrer Zuneigung entsprang.
»Ich weiß«, sagte er. »Deshalb hast du ja auch Sebastian so verhätschelt.«
Ihr Lächeln ließ kaum merklich nach. Dann warf sie einen raschen Blick nach hinten zu Gabe. Er lächelte überhaupt nicht. Er beobachtete sie. Alle wußten, daß Sebastian seinen Platz eingenommen hatte. Aber wie man es auch betrachtete, wie sehr sie ihn auch geliebt haben mochten – Sebastian war niemals der Thronfolger gewesen. Sebastian war ihr Kind, wenn auch nicht das Kind, das ihnen geschenkt worden war.
»Wir müssen herausfinden, wie wir uns diesen Ort zunutze machen können«, sagte Nicholas und ging damit wieder zur Tagesordnung über. »Vielleicht hilft er uns dabei, Rugad aufzuhalten.«
Er mußte nach diesen Worten schwer schlucken. Als er den Leichnam der Schamanin tiefer in die Höhle getragen hatte, dorthin, wo kein Licht mehr hindrang, hatte er gespürt, daß noch jemand, noch etwas anwesend war. Er hatte sich neben die Schamanin gekniet, sie für sein Verhalten in der vergangenen Nacht um Vergebung gebeten und ihr gesagt, daß er sie vermisse. Dann versprach er ihr, daß man sie wie eine Fey begraben würde, sobald ihm das möglich war. Er war noch eine Weile neben ihr sitzen geblieben und hätte gern noch mehr für sie getan; er hätte gern mehr verhindert. Aber das hatte er nicht. Sie war tot, und sie hatte es sich so ausgesucht.
Aber, wie Jewel gesagt hatte, für gewöhnlich ist das Geschenkte wertvoller als das, was man verliert. Er hatte seine Frau zurückbekommen – zumindest für eine gewisse Zeit. Und er wußte, daß das genug war.
Diesmal würden sie sich wenigstens voneinander verabschieden können.
Bei diesem Gedanken wurde ihm das Herz schwer. Er wollte sich nicht von ihr verabschieden. Niemals.
Aber er würde es tun, wenn es sein mußte.
Er warf einen Blick zu der Stelle hinüber, an die er die Schamanin gebracht hatte. Er hatte geglaubt, er habe sich dort lange aufgehalten, aber als er zurückkam, hatten ihm sowohl Fledderer als auch Adrian versichert, er sei nur wenige Sekunden weg gewesen.
Man hatte ihn davor gewarnt, daß die Zeit an diesem Ort anders verrann.
»Wie geht es ihm?« fragte Jewel mit einem Blick zu Coulter. Ihre Stimme riß Nicholas aus seinen Tagträumen.
»Ich weiß es nicht.« Gabe ging neben Coulter in die Hocke. Die Antipathie, die bei Nicholas’ Ankunft zwischen Coulter und Gabe geherrscht hatte, schien allmählich abzuklingen. »Coulter! Geht’s dir wieder besser?«
Arianna hob den Kopf. Tränen schimmerten auf ihrem Gesicht, ihre Wangen waren verschmiert, Haare klebten daran fest. Sie hatte geweint, und Nicholas hatte es nicht einmal gemerkt.
Als Coulters Name fiel, sah sie auf.
»Ja, etwas«, murmelte Coulter. »Aber verlang bloß nicht, daß ich auch nur einen kleinen Funken entzünde.«
»Ist deine Zauberkraft dahin?« erkundigte sich Adrian.
Coulter schüttelte den Kopf. »Sie kommt wieder. Teilweise ist sie schon wieder da. Aber nur unwichtige Bereiche.«
Nicholas sah von ihm weg. Seine Tochter hingegen starrte ihn an. Sie schien von ihm fasziniert zu sein. Bei all der Arbeit, die für die Verteidigung der Höhle auf sie zukam, würde ihr keine Zeit bleiben, ihrer Faszination näher auf den Grund zu gehen.
Dafür war Nicholas dankbar. Allmählich wurde ihm bewußt, wieviel Schaden er damit angerichtet hatte, daß er seine Tochter von allem abgeschottet
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