Fey 10: Das Seelenglas
zurück.
»Wartet«, sagte Adrian. »Wir sollten uns genau ansehen, was mit ihr geschehen ist.«
Nicholas’ Augen brauchten eine Weile, um sich wieder an das normale Licht zu gewöhnen. Die Kugel sah anders aus als die anderen. Sie war dunkler und schien in der Mitte versengt, als sei etwas herausgebrannt. Aber wie genau Nicholas die anderen Kugeln auch betrachtete, er konnte nichts entdecken, das aussah, als könne es brennen. Er konnte überhaupt nichts in den Kugeln erkennen.
»Jetzt ich«, sagte Adrian.
»Warte«, hielt ihn Nicholas zurück.
Er ging hinüber zu den Juwelen. Das seltsame Licht, das sie versprüht hatten, war verschwunden, doch sie sahen irgendwie heller aus, klarer, als hätte das Licht sie poliert und ihnen einen neuen Glanz verliehen.
Er faßte sie nicht an. Noch nicht. Er war noch nicht soweit.
»In Ordnung«, sagte er zu Adrian.
Adrian nahm eine der Kugeln in die Hand. Auch von ihr flackerte ein Licht auf. Es erleuchtete die Höhle, kam Nicholas aber nicht so hell vor. Er fragte sich jedoch, ob er das nur so empfand, weil er sie nicht selbst in Händen hielt. Vielleicht wäre sie einem Inselbewohner, der nicht direkt neben ihr stand, nicht so hell erschienen.
»Meine Güte«, stieß Adrian überrascht hervor.
Das Licht erfaßte die Juwelen, die es wie zuvor aufsaugten. Die ganze Szene wiederholte sich genauso, wie sie sich bei Nicholas abgespielt hatte. Dann erlosch das Licht. Auch diese zweite Kugel sah jetzt dunkel und ausgebrannt aus.
Die Kugeln wirkten wie … kaputt.
Nicholas hob seine Kugel erneut auf. Jetzt flackerte sie nicht mehr. Eigentlich hatte er es nicht anders erwartet. Die Kugeln konnten nur einmal benutzt werden, und er wußte nicht, wie man neue herstellte.
Sie waren Waffen, ja. Aber es gab nur einen begrenzten Vorrat von ihnen. Obendrein durfte er sie nicht benutzen, wenn seine Kinder in der Nähe waren.
Adrian betrachtete die Kugel eine Weile, dann sah er Nicholas fragend an.
»Die Schwerter?«
Nicholas schüttelte den Kopf. Dafür war er noch nicht bereit. Die Waffe, die wie eine Waffe aussah. Das heilige Symbol, das genau das repräsentierte, was es war. Statt dessen ging er hinüber zu den silbernen Schalen für das Fest des Lebens.
Sie waren so alt wie die Kugeln, vielleicht sogar älter, wenn man die Machart der Silberschmiedearbeit betrachtete. Seltsamerweise waren sie nicht beschlagen. Sie glänzten so, als seien sie soeben frisch poliert worden.
Es war schon Jahrzehnte her, seit er an einem Fest des Lebens teilgenommen hatte. Er konnte sich kaum mehr daran erinnern. Etwas, das mit grünen Ota-Blättern kredenzt und mit Weihwasser gesegnet wurde. Der Danite, der die Zeremonie durchgeführt hatte, hatte die gefüllte Schale hochgehoben und einen Segensspruch ausgesprochen. Es war ein ganz bestimmter Segensspruch gewesen, der Nicholas’ Gedächtnis entfallen war.
»Hast du je an einem Fest des Lebens teilgenommen?« fragte er Adrian.
Adrian stellte sich neben ihn. Seine rechte Hand, die, in der er die Kugel gehalten hatte, war zur Faust geballt. »Nein«, sagte er. »Ich höre zum ersten Mal davon.«
Nicholas nickte. In dieser Hinsicht war Adrian keine Hilfe. Alles, worauf er nun hoffen konnte, war, daß sein trügerisches Gedächtnis die Worte doch noch preisgeben würde.
Er ergriff die Schale mit beiden Händen und hob sie über den Kopf, genauso wie der Danite es vor all den Jahren getan hatte, und erschauerte in der Erwartung, daß jetzt irgend etwas passieren würde.
Aber nichts geschah.
Er senkte die Schale wieder. »Ich nehme an, du siehst auch nirgendwo Ota-Blätter, oder?« fragte er zweifelnd.
Adrian schüttelte den Kopf. »Ich weiß noch nicht einmal, wie die aussehen«, sagte er.
Nicholas hatte die Pflanze auch noch nie gesehen, aber die Blätter waren unverkennbar. Gekocht schrumpften sie auf ein Achtel ihrer Größe und hatten einen leicht süßlichen Geschmack, roh hingegen waren sie zäh. Wenn er sich je einen Geschmack für die Farbe Grün vorgestellt hatte, dann diesen.
Im Palast galten sie als Delikatesse und wurden jedes Frühjahr von den Blutklippen angeliefert, um mit einer speziellen süßen Soße kredenzt zu werden. Es gab sie immer nur für eine begrenzte Zeit, etwa eine Woche im Jahr. Und sie gehörten zu seinen Lieblingsgerichten.
Seltsam, daß er sich an diesen Teil erinnern konnte. An die Tatsache, daß Ota-Blätter bei der Zeremonie benutzt wurden. Grüne Ota-Blätter. Es gab auch purpurfarbene, aber erst bei
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