Fey 10: Das Seelenglas
hat es nicht getan. Ich dachte, er würde ihn der Kommandantin der Infanterie erläutern. Aber ich habe mich getäuscht. Er hat kaum etwas verraten. Jedenfalls nichts, was ich nicht ohnehin schon wußte.« Jetzt lehnte sie sich an ihn und legte beide Arme um ihn.
Er war noch nicht soweit. Er spürte immer noch ihre Abwesenheit und dadurch ihre Weigerung, ihm zu helfen. Er spürte noch immer, daß sie ihn für einen Narren hielt, weil er nicht so kämpfte, wie sie es für richtig hielt.
Er trat zur Seite, löste sich aus ihrer Umarmung. Sie seufzte und ließ die Hände sinken.
»Was hast du noch getan, Jewel?«
»Nicky …«
»Jewel.« Seine Stimme klang jetzt harsch. Sie hatte etwas getan, von dem sie nicht wollte, daß er es erfuhr.
Er drehte sich um. Auch sie hatte sich von ihm entfernt und stand jetzt wieder direkt hinter dem Höhleneingang. Ihr Mund bildete eine einzige gerade Linie, und sie sah älter aus als noch wenige Sekunden zuvor. Ihr Haar war von Perlen nach oben gebunden, den Perlen, die am Tag, an dem sie gestorben war, in ihre Kopfhaut eingeschmolzen waren.
»Matthias«, flüsterte sie.
Die Ausdruckslosigkeit war in ihren Blick zurückgekehrt.
»Du weißt, wo er ist.«
Sie sagte nichts.
»Jewel, die Schamanin ist für ihn gestorben.«
»Sie hat einen Fehler begangen«, erwiderte Jewel.
»Sie hat niemals zuvor einen Fehler begangen.«
»Stell dich nicht auf seine Seite!« fuhr sie ihn an. »Tu das bloß nicht!«
Nicholas ging einen Schritt auf sie zu. »Ich hätte ihn damals um ein Haar eigenhändig getötet. Das weißt du.«
»Ich weiß«, sagte sie. Sie rührte sich nicht und beobachtete ihn lediglich aus dem Augenwinkel. Auf ihrer Stirn zeichnete sich ein feines Narbenmuster ab, als wären die gräßlichen Wunden ein für allemal verheilt. Aber er wußte, daß sie nicht verheilt waren.
Die Tatsache, daß sie nicht aus der Höhle herauskonnte, war der Beweis dafür.
»Aber du hast ihn nicht getötet«, sagte sie. »Du hast es nicht getan, obwohl du es hättest tun sollen. Genau wie du jetzt die neue Macht, die du gefunden hast, benutzen solltest.«
»Die Schamanin sagte …«
»Er sei Gott!« Sie spie das Wort förmlich aus. »Ich glaube an keinen Gott, und du auch nicht!«
»Aber da ist etwas«, erwiderte Nicholas.
»Zu glauben, er sei Gott, macht dich so beschränkt wie die Leute, die diesen Ort gefunden haben«, sagte sie. »Und Matthias kann nicht Gott sein. Er ist ein Ungeheuer!«
»Sie sagte, er würde Schwarzes Blut vor Schwarzem Blut schützen.«
Jewel sah weg von Nicholas. Die Perlen zeichneten sich weiß auf ihrem schwarzen Haar ab. Sie trug noch immer ihr Wams und ihre langen Hosen. Immerhin hatte sie es mit der Erinnerung nicht übertrieben: kein grünes Kleid, keine Schwangerschaft. Die Perlen reichten vollauf.
Er erinnerte sich daran, wie sie in sie hineinschmolzen, während sich ihre Schädelknochen auflösten.
Plötzlich fühlte er sich ein wenig unwohl. Er verteidigte den Mann, der sie umgebracht hatte.
»Das konnte die Schamanin gar nicht wissen«, sagte Jewel.
»Warum nicht? Weil du es nicht weißt?«
»Wir können unsere Zukunft nicht auf die Worte einer toten Frau bauen.« Ihre Worte klangen flehentlich.
»Ich verlange nicht, daß du ihn in Ruhe läßt«, sagte Nicholas.
Jewel drehte ihm den Rücken zu. Die Perlen waren verschwunden. Jetzt war wieder der Zopf zu sehen. Er fragte sich, ob sie das absichtlich tat oder ob da etwas anderes seinem Verstand etwas vorgaukelte. »Was verlangst du denn sonst?«
»Daß du wartest«, sagte Nicholas. »Warte ab, bis wir wissen, wer diesen Kampf gewinnt. Dann kannst du tun, was du tun mußt.«
Sie schürzte die Lippen ein wenig, als lasse sie sich seine Worte durch den Kopf gehen. Dann zog sie die Stirn kraus. »Ich weiß nicht, ob ich das kann, Nicky«, sagte sie. »Ich bin nicht so ungebunden, wie ich es gerne wäre. Meine Macht gründet sich auf meine drei Entscheidungen. Nun bin ich an diese Entscheidungen gebunden.«
»Was sagst du da?« fragte er.
Sie senkte den Kopf. »Ich sage, daß ich ihn wahrscheinlich töten muß, falls er hier oben auftaucht. Ich habe womöglich keine andere Wahl.«
»Woher willst du das wissen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Jewel! Kannst du das nicht herausfinden?«
»Nein«, sage sie leise, und zum ersten Mal wurde ihm klar, daß sie es bereits versucht hatte. »Und ich kann mich auch nicht einfach zurückziehen, bis alles vorbei ist. Ich war bei den Mächten. Ich habe sie
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