Fey 10: Das Seelenglas
andere Gruppe aufhielt. Er hatte den Eindruck, wenn er genau wußte, wo die Fey waren, dann konnte er auch diese andere Gruppe finden und umgekehrt. Er hatte den Eindruck, als berge dieser Ort das Geheimnis der anderen.
Zitternd schob sich Matthias bis an das vordere Ende der Bank zurück.
Es kam ihm vor, als sei er aus einem langen Schlummer erwacht. Er fühlte sich zerschlagen und orientierungslos, als hätte er geschlafen, dabei wußte er, daß das nicht stimmte.
Er nahm den halb gegessenen Apfel und wollte gerade hineinbeißen, als sein Blick darauf fiel. Die Stelle, an der er abgebissen hatte, war braun und sah ganz weich aus, als hätte der Apfel stundenlang in der Sonne gelegen. Stirnrunzelnd musterte er die Wände. Wirkte sich das merkwürdige Licht etwa auf den Apfel aus?
Er wußte es nicht.
Er drückte auf die braune Stelle. Der Apfel war noch nicht weich. Normalerweise wurden Äpfel, nachdem man sie angebissen hatte, erst nach einer Weile so braun.
War er wirklich so lange weg gewesen?
Es war ihm nur wie ein kurzer Augenblick vorgekommen.
Trotzdem schien der Apfel unmißverständlich anzuzeigen, daß mehr Zeit vergangen war. Viel, viel länger.
Der Roca hatte diesen Ort einen Traum genannt, eine Phantasievorstellung, einen Ort, an dem alle Punkte zusammentreffen. Er hatte diesen Korridor einen Zeitdieb genannt.
Der Roca hatte recht: Der Korridor stahl einem Zeit.
Dabei hatte Matthias keinesfalls soviel Zeit, um sie sich stehlen zu lassen.
Er aß den Apfel auf und stellte das Gehäuse auf das andere Ende der Bank, wobei er darauf bedacht war, selbst nicht mit dieser Stelle in Berührung zu kommen. Auf dem Rückweg – falls er zurückkam – würde er überprüfen, was mit dem Gehäuse geschehen war. Vielleicht hatte es sich bis dahin nicht viel verändert; oder aber es hatte sich zu sehr verwandelt.
Vielleicht war er bis dahin auch aufgegessen, von einer Kreatur, die hier unten hauste und die er nur noch nicht bemerkt hatte.
Er band sich sein Bündel um die Hüfte und stand auf. Er zitterte. Dieser Zeitverlust hatte ihn mehr zermürbt, als ihm lieb war.
Hoffentlich hatte er nicht zuviel Zeit verloren.
Er vermutete, daß ihnen nicht mehr viel davon blieb.
Der Korridor führte mal mehr, mal weniger steil nach oben, doch Matthias spürte den Anstieg deutlich in den Waden und den Oberschenkeln. Er hatte sich noch immer nicht ganz von seinem letzten Ausflug erholt; wenn er ehrlich war, mußte er zugeben, daß er sich eigentlich nicht einmal von seinem Sturz in den Fluß und seinem Kampf mit dem Fey erholt hatte, geschweige denn von Jewels Angriff oder der merkwürdigen Welle, die ihn am vorletzten Morgen erwischt hatte. Auch aus diesem Grund hatte er Marly seine Abreise verschwiegen. Sie hätte ihm nur vorgehalten, daß er noch nicht gesund genug sei, sich unnötige Sorgen um ihn gemacht und ihm damit ein schlechtes Gewissen eingeredet.
Er hatte auch so ein schlechtes Gewissen, wenn er daran dachte, daß er sie einfach so verlassen hatte.
Sein ganzes Leben hatte er auf jemanden gehofft, der sich um ihn sorgte. Erst als es zu spät war, hatte er erkannt, daß ihm der Fünfzigste Rocaan zugeneigt war und ihn besser durchschaut hatte als er selbst. Aber das war etwas anderes. Was Marly für ihn empfand, und er für Marly, war etwas, das er sich nie hätte träumen lassen. Von dem Augenblick an, an dem ihm erlaubt wurde, sich dem Tabernakel ehrenhalber anzuschließen – er hatte nie erfahren, wer sich da für ihn eingesetzt und so manche Regel mißachtet hatte –, war er überzeugt davon gewesen, daß ihm die körperliche Liebe versagt bleiben würde.
Und jetzt, da sie ihm doch zuteil geworden war, hatte er nicht die Möglichkeit, sich ihrer zu erfreuen. Sein Leben, seine Pflicht, hielten ihn von Marly fern.
Aber wenn er starb, würde er jetzt zumindest wissen, daß er beide Seiten des Lebens kennengelernt hatte, die gute und die schlechte.
Er hatte beide Seiten des Lebens kennengelernt und beiden Seiten Leid zugefügt.
Wenn er denn morgen sterben mußte, so hoffte er doch, daß Gott, oder was auch immer Gottes Stelle in dieser Welt einnahm, wußte, daß Matthias sich ernsthaft darum bemüht hatte, das Gute zu tun.
Der Weg war inzwischen sehr steil geworden, die aus dem Fels gehauene Decke niedriger. Trotzdem mußte Matthias immer noch nicht den Kopf einziehen, auch wenn es in dem Gang deutlich enger wurde.
Eigenartigerweise gab es hier keine Spinnweben, auch keinen Schmutz, nicht einmal
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