Fey 10: Das Seelenglas
Staub. Es schien, als sei der Gang ständig in Gebrauch.
Er konnte sich nicht vorstellen, wie das möglich war, mit dem Gewölbe an einem und der so gut wie unbekannten Höhle am anderen Ende. Trotzdem kam es ihm so vor, und er wußte nicht, weshalb.
Es lag jedoch nicht am fehlenden Staub.
Es war der Eindruck, als sei noch jemand anwesend, als wäre er nicht allein.
Aber er war allein. Er hatte keine Schritte gehört, und auch sonst keine Geräusche, abgesehen von seinen eigenen. Er wußte, daß ihm niemand ins Gewölbe gefolgt war. Er hatte dort abgewartet und die Worte abermals durchgelesen, nur um sicherzugehen.
Außerdem hatte ihn Pausho hinabgeführt. Sie hatte bestimmt darauf geachtet, daß ihm niemand folgte.
Oder nicht?
Aber ja. Sie würde niemanden das Gewölbe betreten lassen, und sie konnte auch keinen der Weisen entbehren, ganz egal wie wenig sie Matthias vertraute. Was allein zählte, war, den Angriff der Fey zu überstehen. Die Querelen zwischen ihm und Pausho, zwischen ihm und den anderen Inselbewohnern konnten warten, bis die Fey bezwungen waren.
Das wiederum konnte nur geschehen, wenn er das tat, was er gerade zu tun versuchte. Er mußte die Macht anzapfen, die der Roca ihm hinterlassen hatte, die Macht, die der Roca entweder verworfen oder absichtlich dazu benutzt hatte, diejenigen zu vernichten, die so wie er waren.
Matthias’ Stirn legte sich in Falten. Der Plan des Roca war bis zu einem gewissen Punkt aufgegangen. Er hatte die meisten seinesgleichen vernichtet. Aber einige hatten überlebt. Es mußte so gewesen sein, sonst hätte es nie einen Matthias gegeben.
Was ihn verunsicherte, war das Gerede über geistige Verwirrung, über den Wahnsinn, der sich, wenn man die Kraft, die ihm gegeben war, benutzte, im zweiten Sohn bemerkbar mache.
Und eine andere Art von Wahnsinn, eine, an die er sich nur dunkel aus der Zeit erinnerte, als er damals zusammen mit Alexander die Schulbank gedrückt hatte, bevor dieser König wurde. Er hing mit den frühen Tagen des Rocaanismus zusammen: Damals war der Wahnsinn angeblich weit verbreitet gewesen.
Alexander hatte darüber gescherzt und gesagt, sogar in seiner eigenen Familie habe es einige Fälle gegeben, woraufhin ihn ihre Lehrer rasch zum Verstummen gebracht hatten. Es hatte den Anschein gehabt, als sei es nicht schicklich, daß der König Fälle von Wahnsinn in seiner Familie erwähnte, auch nicht fünfzig Generationen später.
Alexander hatte nie wieder daran gerührt.
Matthias ging um die nächste Biegung des Korridors. Der Gang wurde noch steiler. Das gefiel ihm nicht, aber andererseits tat der Gang genau das, was Matthias wollte: Er führte nach oben. Dann folgte eine weitere Biegung nach rechts – und auf einmal erhob sich vor ihm im Halbdunkel eine Treppe.
Die Stufen schienen bis in die Unendlichkeit nach oben zu führen. Das allgegenwärtige Leuchten schien sich nicht auf die Treppe zu erstrecken, nur auf die Wände und den flachen Boden. Matthias fragte sich, ob das von Anfang an so gedacht war oder ob das System hier nicht mehr richtig funktionierte.
Er setzte den rechten Fuß auf die erste Stufe – und vernahm ein Lachen.
Er erstarrte.
Das Lachen verklang, als wäre es niemals ertönt.
Er nahm den Fuß von der Stufe.
Stille.
Er setzte den Fuß wieder auf die Stufe.
Nichts.
Er setzte den Fuß auf die nächste Stufe.
Lachen.
Helles, ansteckendes Lachen, als amüsierte sich jemand über einen guten Witz.
Wieder hielt er mitten in der Bewegung inne.
Jemand seufzte.
»Bei dieser Geschwindigkeit brauchst du ewig bis oben«, sagte eine männliche Stimme.
Matthias warf einen Blick nach hinten. Der Korridor war gut ausgeleuchtet und leer. Sein Blick wanderte nach oben. Das Licht aus dem Korridor hinter ihm leuchtete ein Stück in die Dunkelheit hinein, ebenso wie das Licht, das vom Boden weiter oben kam.
Doch ungefähr in der Mitte der Treppe blieb eine Stelle im Dunkeln, und genau von dort schien die Stimme zu kommen.
»Na, was jetzt? Bleibst du dort stehen, oder kehrst du um?«
Matthias’ Herz hämmerte wie wild. »Wer bist du?«
»Niemand, den du kennst. Eigentlich kenne ich überhaupt niemanden mehr.«
Eine Männerstimme. Nicht Jewel. Es konnte unmöglich Jewel sein.
Oder doch?
Führte sie ihn an der Nase herum?
Matthias hatte sich geschworen, keine Angst vor ihr zu haben. Er wollte ihr so begegnen, als wäre sie noch am Leben.
Er dachte an eine kleine Flamme auf dem Zeigefinger seiner rechten Hand. Sofort erschien
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