Fey 10: Das Seelenglas
zu töten. Die Duplikate starben nur, wenn das Original starb. Es war, wie ihnen Aris Mutter versichert hatte, eine der sichersten Arten, Posten aufzustellen.
»Fledderer«, sagte ihr Vater. »Richte Leen aus, sie soll sich ein paar Stunden ausruhen. Sie wird Adrian nach Einbruch der Dunkelheit ablösen.«
»Jawohl!«
»Und was tun wir?« wollte Ari wissen. »Gabe und ich?«
»Ihr bleibt bei mir«, antwortete ihr Vater. »Ihr müßt lernen, daß die Anführer stets hinter den Linien arbeiten, und ihr erfahrt jeden Aspekt dieses Schlachtplans, damit ihr auch dann kämpfen könnt, wenn mir etwas zustößt.«
»Wie kann dir etwas zustoßen, wenn du hinten bei uns bist?« fragte Ari.
Ihr Vater schüttelte den Kopf. »Bei einer Schlacht kann man das nie genau voraussagen, Ari«, antwortete er leise. »Man muß auf alles vorbereitet sein.«
Zum Beispiel auf die Invasion ihrer Heimat.
Zum Beispiel auf eine schnelle Flucht in die Berge.
Zum Beispiel auf den Verlust Sebastians.
Ihr Mund wurde trocken. Ihr war nicht deutlich gewesen, nicht in ihrem Innersten, daß sie noch mehr verlieren konnte. Ihre neugewonnenen Freunde.
Coulter.
Ihren Vater.
Coulter mußte ihrem Gesicht etwas angemerkt haben, denn er legte den Arm um sie und zog sie an sich. Sie lehnte sich an ihn, brauchte seine Unterstützung. Er drängte sich an sie. Sein Herz klopfte heftig.
Er hatte Angst. Sie legte eine Hand auf die seine. Er hatte ihr am Abend zuvor erzählt, daß er nicht wisse, wieviel an Tod und Gemetzel er noch aushielte. Auf dem Weg hierher hatte er einen ganzen Trupp Fey getötet, und das ging ihm noch immer nach.
Er hielt sich für einen gebrochenen Mann.
Sie hielt ihn für stark. So stark, wie sie selbst sein mußte. Stark und sensibel. Dazu hatte sie sich selbst abgerichtet, dazu hatte sie sich neu erschaffen.
Niemand hatte ihr verboten, sich dem Höhleneingang zu nähern, aber sie ging ohnehin nicht mehr in seine Nähe.
Nicht, bevor die Schlacht vorbei war.
Es sei denn, sie mußte es tun.
22
Eine Ratte huschte vor ihr über den Weg. Sie sah merkwürdig aus.
Pausho blieb stehen, schaute ihr nach und wollte ihren Augen nicht trauen. Auf dem Rücken der Ratte ritt ein kleiner nackter Mensch.
Ein kleiner nackter Mensch ohne Beine.
Sie war mit Tri unterwegs zur Versammlungshalle, wo sie nach Zak und den Weisen sehen wollten, die dabei waren, die letzten Vorräte aus dem Gewölbe auszuräumen. Anschließend wollten sie es zum Schutz der Worte fest verschließen, obwohl Matthias hindurchgegangen war. Alle paar Stunden sollte jemand hinuntergehen und nachsehen, ob Matthias zurückgekommen war.
Pausho war sich ziemlich sicher, daß er es nicht schaffte.
Tri war sicher, daß er durchkam.
Aber die Ratte machte ihr Sorgen. Es war schon die zweite, die sie in den letzten paar Minuten gesehen hatte, und diese hier sogar aus der Nähe.
Sie waren nicht mehr weit von der Versammlungshalle entfernt. Die Kopfsteinstraßen mit ihren Steinhäusern waren ihr so vertraut wie ihr eigener Körper. Aber eine Ratte hatte sie in dieser Gegend noch nie gesehen, geschweige denn zwei.
Eine dritte beobachtete sie von einer Türschwelle aus. Sie stand auf den Hinterbeinen, rieb die Vorderpfoten wie bittend aneinander und schnupperte mit zitternden Barthaaren in der Luft.
Pausho konnte ihren Rücken nicht sehen und somit nicht erkennen, ob etwas auf ihr ritt.
Sie zupfte Tri am Ärmel. »Hast du das gesehen?« flüsterte sie und zeigte auf die Ratte.
»Und das«, antwortete er und blickte in Richtung einer Seitengasse. Sie drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um einen langen, rosafarbenen Schwanz hinter einem Steinhaufen verschwinden zu sehen.
»In diesem Teil der Stadt haben Ratten nichts zu suchen«, sagte sie. Die Stadt hatte zwar mit einer Rattenplage zu kämpfen, das schon, aber nur unten am Fluß und in den ärmeren Wohnvierteln. Nicht hier im Zentrum, in der Nähe der Versammlungshalle.
»Vielleicht treibt sie etwas hierher«, fragte sich Tri.
Sie schüttelte den Kopf und spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde. Sie wollte ihm nicht erzählen, was sie gesehen hatte, wußte jedoch, daß es besser war, wenn sie es tat. »Ich glaube, ich habe auf einer von ihnen einen winzigen Menschen reiten sehen.«
Tri sah sie mißtrauisch an. »Einen winzigen Menschen?«
Sie nickte. Es wurde ihr noch heißer im Gesicht.
»Das ist unmöglich«, sagte Tri. Dann musterte er sie genauer. »Oder doch?«
»Noch vor zwei Tagen hätte ich es
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