Fey 10: Das Seelenglas
selbst nicht für möglich gehalten«, erwiderte Pausho. »Aber jetzt bin ich mir nicht mehr sicher.«
»Ich wünschte, Matthias wäre hier.«
Das wünschte sie auch, aber das durfte sie nicht laut zugeben. Zumindest könnte ihnen Matthias sagen, ob die Langen die Ratten vom Fluß herauftrieben oder auf ihnen wie auf Pferden ritten. Aber nach allem, was sie wußte und was der Roca in den Worten niedergeschrieben hatte, hatte man bisher noch nie von so etwas gehört. Ihr Volk konnte sich nicht schrumpfen. Konnten es die Langen etwa?
»Halte die Augen offen«, sagte sie, »vielleicht siehst du noch mehr davon.« Dann führte sie Tri weiter in Richtung Versammlungshalle. Die Straßen wurden enger und liefen alle auf das Gebäude im Zentrum der Stadt zu, auf das Herz der Stadt: die Halle.
Sie sah keine Ratten mehr, und auch das kam ihr merkwürdig vor. Es war fast so, als hätten die Ratten ihre Unterhaltung belauscht, als wüßten sie, daß sie nach ihnen Ausschau hielten, als hätten sie bemerkt, daß sie hier am falschen Ort waren.
Ringsumher vernahm Pausho die Geräusche ihres Volkes, das sich für die bevorstehende Schlacht rüstete. Klingendes Metall zeigte an, wo Schwertkampf geübt wurde, wild debattierende Stimmen erhoben sich, und durch die Straßen dröhnte lautes Hämmern von dort, wo die von ihr geforderten Gegenstände angefertigt wurden.
Die Stadt machte sich kampfbereit, aber es sah nicht danach aus, als würde es ausreichen.
»Irgend etwas stimmt nicht«, sagte sie zu Tri.
Er nickte.
Sie nahm seine Hand, plötzlich und unerwartet, und drückte sie fester, als sie eigentlich vorgehabt hatte. Auch ihm hatte sie zu Anfang nicht getraut, und sie wollte ihm auch jetzt nicht trauen. Aber die drohende Schlacht zwang sie dazu, sich anders zu verhalten.
»Wenn mir etwas zustößt …«
»Das wird nicht geschehen.«
»Falls aber doch«, sagte sie, »dann machst du hier weiter. Befolge die Worte.«
»Ich habe sie nicht studiert.«
»Dann folge meinem Beispiel; dem, was du während der letzten Tage hier gesehen hast. Benutze alle Macht, die dir zur Verfügung steht. Kämpfe mit aller Kraft. Dieser Ort hier ist unsere Heimat. Wir dürfen nicht zulassen, daß er von den Langen überrannt wird.«
»Die Fey«, sagte Tri leise. »Matthias nennt sie die Fey. Und er ist selbst lang.«
Sie nickte. Selbst jetzt war sie nicht bereit, dieses Zugeständnis zu machen. Das nervöse Gefühl, das seit dem Anblick der ersten Ratte von ihr Besitz ergriffen hatte, wurde stärker. »Geh zum Markt zurück«, sagte sie. »Wir sollten nicht zusammensein.«
»Aber du hast doch selbst gesagt, daß die Weisen und« – er grinste humorlos – »die ehemaligen Weisen beisammenbleiben sollten.«
»Ich habe es mir anders überlegt«, sagte sie. »Wenn uns die Klippler verlieren, dann verlieren sie alles. Geh sofort zurück. Sorge dafür, daß alles wie geplant läuft. Wenn die Langen angreifen, folgst du dem Plan, den ich ausgearbeitet habe.«
»Nicht ich bin derjenige, der das tun sollte«, sagte Tri. »Ich habe am wenigsten Ahnung davon. Vielleicht Zak oder einer der anderen, aber doch nicht ich.«
»Geh«, sagte Pausho leise und gab ihm einen kräftigen Schubs. »Sofort!«
Er schüttelte ungläubig den Kopf, drehte sich jedoch um und ging auf dem gleichen Weg zurück, auf dem sie gekommen waren. Sie sah ihm einige Sekunden nach, sah nach links, rechts und auf seine Füße, als suchte sie nach Ratten.
Nachdem er um eine Ecke verschwunden war und ihm keine Ratte folgte, nachdem überhaupt keine Ratten mehr zu sehen waren, stieg sie die Stufen zur Versammlungshalle hinauf.
Sie zog die Tür auf und blinzelte in die plötzliche Dunkelheit. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, Kerzen anzuzünden. Es schien überhaupt niemand dazusein. Die Halle verfügte über keine Fenster, damit niemand hineinschauen konnte, wenn die Weisen ihre Sitzungen veranstalteten.
Sie blieb neben der Tür stehen, nahm eine Kerze in die Hand und zündete sie mit einem Feuerstein an. Normalerweise reichte eine Kerze aus, um den Großteil des Raumes zu erleuchten, doch diesmal schienen die Schatten sogar noch intensiver zu werden. Sie fragte sich, ob sie sich das alles nur einbildete, ob sich ihr Zustand in ihrer Wahrnehmung spiegelte. Es sah aus, als sei nichts angerührt worden.
Vielleicht lag gerade darin das Problem.
Der Tisch stand in der Mitte, die Stühle standen um ihn herum, so wie sie vor Tagen verlassen worden waren.
Es sah aus, als
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