Fida (German Edition)
nebeneinander her leben. Leidensgenossen, die zusammen das gemeinsame Schicksal erdulden und doch für sich allein sind. Ihr fehlt das einstige Miteinander, aber auch die Kraft, etwas daran zu ändern, eine Brücke zu bauen, dort, wo mittlerweile eine tiefe Kluft aufklafft. Anfangs, in den ersten Tagen nach Lauras Verschwinden, hatten sie sich noch aneinander festgeklammert und versucht, sich gegenseitig Halt zu geben. Doch mit jedem vergehenden Tag bröckelte ein wenig Zuversicht ab. Die Hoffnung schmolz dahin, wie Schnee im Frühling. Beim Zerfließen höhlte sie die Verbindung zwischen ihnen aus, als wäre sie aus leicht brüchigem Sandstein, der den Fluten der Verzweiflung nicht standhalten konnte. Zurück blieb nur die Fassade der einst soliden, glücklichen Ehe.
Tatjana bemerkte, wie Jochen sich immer mehr zurückzog. Wollte er nicht vollends den sicheren Stand im Leben verlieren, dann musste er vorwärts blicken. Er musste funktionieren, seine Arbeit verrichten und konnte es sich nicht leisten, in einem Meer voll Trauer zu versinken. Er war Realist. So wenig wie seine Frau hatte er geglaubt, dass Laura einfach abgehauen war. Und eines Tages hatte er es sogar ausgesprochen: „So schwer es auch ist, Tatjana, wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen: Wahrscheinlich ist Laura tot.“
Dieser Gedanke war logisch, rational – doch das mit ihm einhergehende Gefühl war für Tatjana unerträglich. Es umklammerte ihren Brustkorb, ein Enge-Gefühl, als würde sich dieser schrecklichste aller Gedanken auf ihren Brustkorb setzen und bereit machen, hineinzugreifen um ihr Herz anzuhalten. Auch wenn sie keine absolute Gewissheit hatten, eine andere Erklärung war fast nicht möglich. Als Jochen ihn zum ersten Mal laut aussprach, hatte sie ihm, das konnte sie aus heutiger Sicht kaum fassen, aus einem ersten Reflex heraus eine schallende Ohrfeige gegeben. Später hatte sie sich dafür entschuldigt.
Seither hatten sie unzählige Male darüber gesprochen, deswegen gestritten, bevor sie das Thema schließlich schweigend begruben und Lauras Namen fast nicht mehr erwähnten. Trotzdem oder gerade deshalb steht das Thema ständig unausgesprochen zwischen ihnen. Eigentlich muss Tatjana ja zugeben, dass er Recht hat. Doch tief im Innern weiß sie, dass ihr Kind irgendwo da draußen sein muss. Lebendig. Sie will gar nichts anderes glauben. Ohne Gewissheit kann, will, ja DARF sie sich keinen anderen Gedanken erlauben. Es würde sie den Verstand kosten.
So wie dieses Ticken. Tick – tick – tick … Sekunden die unwiederbringlich versickern.
Unwiederbringlich. Ein grausames Wort, das ihr einen Stich ins Herz jagt. Das Gefühl, alles verloren zu haben, wofür sie vormals gelebt, was sie geliebt hat, ist kaum zu ertragen. Selbst der Mann neben ihr ist nur noch ein Schatten der Vergangenheit. Ein verblassendes Abbild, Karikatur seiner selbst. Ebenso wie sie. Stoisch folgt sie Tag für Tag ihren Abläufen, damit sie irgendetwas zu tun hat, abgesehen davon, langsam verrückt zu werden. Vom Irrsinn, schätzt sie die Lage selbst ein, scheint sie nicht mehr besonders weit entfernt. Ihr Körper ist todmüde, über seine Belastungsgrenze erschöpft, doch ihr Geist benimmt sich wie eine Katze, die rotiert beim Versuch sich selbst in den Schwanz zu beißen. Führt sie immer wieder zurück, zu denselben Gedanken und Schlussfolgerungen, wie ein Perpetuum Mobile, das niemals stillsteht.
Tick – tick – tick … Wieder einmal mischt sich dumpfe Wut in ihre Verzweiflung. Wut auf die Hilflosigkeit, auf Jochen, die Polizei, auf die Nachbarn, die nichts gesehen hatten. Wut auf sich selbst, weil sie nichts tun kann, außer zu hoffen und diese verdammten Plakate an Bäume zu nageln, nur damit der Wind oder ein Passant sie wieder abreißen kann. Sogar auf den unschuldigen Mann, den man anfangs zu Unrecht verdächtigt hatte, ist sie wütend. Wünscht fast, er hätte sich nicht glaubhaft vom Verdacht freimachen können. Dann hätten sie wenigstens einen Schuldigen. Jemand, der verantwortlich ist und nicht nur diese quälende Ungewissheit. Sie ist wütend, weil sie gar nichts tun kann, außer in die Dunkelheit zu starren. Nicht mal schlafen kann sie. Sie kann die Zeit nicht zurückdrehen, sondern nur daliegen und sie irgendwie totschlagen. Zeit… Dieses verdammte Ticken treibt sie noch zum Wahnsinn!
Einem neuen Impuls folgend steht sie auf, tapst auf nackten Sohlen durchs Schlafzimmer, schürt ihren Zorn noch, als sie sich am leicht herausstehenden
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