Fida (German Edition)
erscheint ihr das seltsamerweise völlig bedeutungslos. Alles, was sie sonst nur für ihr eigenes Kind fühlt, steigt in ihr empor. Binnen eines Lidschlags gehört diesem Mädchen all die Liebe und Opferbereitschaft, die Tatjana bislang ausschließlich für Laura empfand. Tatjana lässt ihre Bewaffnung fallen, geht neben ihr auf die Knie und reißt das Mädchen in ihre Arme, drückt sie fest an sich. Sie ist nicht Laura, doch das ist ihr egal. Dieses Mädchen ist die Verkörperung all ihrer Ängste, die sie bezüglich ihrer eigenen Tochter plagen. Das fleischgewordene Abbild ihrer schlimmsten Befürchtungen. Und sie, Tatjana, ist hier, um sie zu retten!
„Ist ja gut! Ich bin ja da! Dir wird nichts mehr geschehen!“, murmelt sie wieder und wieder in ihr Ohr. „Es ist vorbei. Ich lasse nicht zu, dass er dir noch mal was tut!“ Tränen rinnen über ihre Wangen, ein salziger, mitreißender Fluss. Obwohl es nicht Laura ist, überwältigt sie das Gefühl, dieses Kind in den Armen zu halten.
Erst als das Mädchen leise wimmert, merkt sie, dass sie viel zu fest drückt. Tatjana lässt erschrocken los und rückt ein wenig von ihr ab. Nun mustert sie das Kind zum ersten Mal richtig. Sie ist älter, als Tatjana auf den ersten Blick dachte. Weniger ein Kind, vielmehr eine junge Frau. Der Anblick macht Tatjana unsagbar froh, denn sie hat zumindest dieses Opfer gefunden, und ist schrecklich zugleich. Was hat dieses Schwein nur mit ihr gemacht? Noch immer strömen Tränen aus ihren Augen. Die junge Frau sieht sie ungläubig an, kann noch gar nicht fassen, was gerade geschieht. Schließlich bricht ein schluchzender, fragend klingender Laut aus ihr heraus, bevor auch sie in Tränen ausbricht und sich an Tatjana festklammert, wie eine Ertrinkende an einem Rettungsring.
„Mein Mädchen! Ich bin ja da…“, murmelt sie beschwörend auf die weinende Frau ein, während ihre tröstenden Hände wieder und wieder sanft über ihren Kopf streicheln. „Keine Angst, ich hol dich hier raus!“ Sie ist sich der Gefahr bewusst, in der sie noch immer schweben. Ihr Blick wandert, während sie versucht, die junge Frau zu beruhigen, immer wieder zu dem bewusstlosen Mann am Fuß der Treppe. Sie müssen hier raus, bevor der Bastard wieder zu sich kommt. Sanft schiebt sie die junge Frau ein Stück von sich. Sie greift unter das Kinn des Mädchens und bringt es mit sanftem Druck dazu, seinen Blick zu heben. Die Beiden sehen sich in die Augen. „Ich verspreche dir, ich bringe dich hier raus“, versichert Tatjana eindringlich und lässt diesem Versprechen eine Frage folgen. „Wie heißt du, mein Mädchen?“
„Fi… Susanne! Ich heiße Susanne!“
Tatjana fällt auf, dass sie zuerst fast einen anderen Namen nannte. Was wollte sie anstelle von Susanne sagen? Noch bevor sie ihre nächste Frage stellt, hat sie eine düstere Vorahnung, wie die Antwort darauf lautet. „Du wolltest etwas anderes sagen! Was wolltest du sagen, als ich nach deinem Namen fragte?“
„Fi… Fida!“, schluchzt die junge Frau. Ein Grauen, das nun einen Namen trägt, macht sich in Tatjana breit, als sie an das Grab denkt, in das sie vorhin stolperte. Doch sie erlaubt sich nicht, diesen Gedanken weiter zu verfolgen. Dazu hat sie keine Zeit!
„Also gut, Susanne“, drängt sie ihn schnell beiseite. „Wir müssen gehen! Jetzt! Du musst jetzt ganz stark sein. Wir müssen machen, dass wir hier wegkommen! Kannst du aufstehen?“
„Ich kann nicht gehen!“, schluchzt die junge Frau.
Erst als Susanne darauf deutet, fällt ihr die schwere, eiserne Fußfessel auf, mit der die sofortige Flucht verhindert wird.
„Oh Scheiße!“, stöhnt Tatjana auf. Blitzschnell schießen ihr mögliche Alternativen durch den Kopf. Sie könnte allein gehen, sich selbst in Sicherheit bringen und mit der Polizei zurückkehren. Doch was, wenn der Scheißkerl vorher wach wird und sie umbringt, bevor sie wieder da ist? Alles in ihr sträubt sich dagegen, Susanne hier mit ihm allein zu lassen.
„Tom hat den Schlüssel“, wimmert Susanne, mit einem angstvollen Blick zu dem noch immer regungslos daliegenden Körper, der aus einer Wunde an der Schläfe heftig blutet.
Tatjana läuft ein eiskalter Schauer über den Rücken, als sie diesen Namen hört, den sie sofort mit dem Kinderzimmer verbindet. Lebt dieses Monstrum schon so lang hier, wie ein Wolf im Schafspelz, in ihrer vermeintlich sicheren Umgebung? Sie bewaffnet sich erneut, greift wieder zur zerbrochenen Flasche. Es fordert all ihren Mut,
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