Fieber - Horror
auftauchte, seinen Namen aufrief und ihm verkündete, er könne nach Hause gehen, doch offensichtlich hatte Beth es nicht geschafft, um diese Uhrzeit einen Anwalt aufzutreiben. Und ebenso wenig war es ihr gelungen, die Polizisten davon zu überzeugen, dass das Ganze ein entsetzlicher Irrtum war. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit hatte Hunt versucht, die Polizisten zur Vernunft zu bringen, doch die Burschen, die ihn abgeführt hatten, hielten ihn für einen Verbrecher und ignorierten alles, was er sagte. Den Beamten, die später seine Fingerabdrücke nahmen und die Fotos für den Erkennungsdienst machten, war das alles egal. Und die Wache, die ihn zur Gemeinschaftszelle führte, durfte sich vermutlich von jedem Insassen genau die gleiche Geschichte anhören.
Am schlimmsten war, dass Hunt nicht mit Beth reden konnte. Er wusste ja überhaupt nichts! Genauso gut war es möglich, dass sie auf der Suche nach einem gewerblichen Kautionssteller aus einem fahrenden Auto heraus erschossen worden war, oder sie war bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, als sie nach Hause fuhr ... oder sie war auf dem Weg zu ihrem Auto in eine dunkle Seitengasse gezerrt und vergewaltigt worden. Hunt wusste, dass sein Verstand dazu neigte, sich solch extreme Szenarien auszumalen, doch die Situation, in der er sich momentan befand, war extrem, und daraus hatte er gelernt, dass alles, wirklich alles, möglich war.
Noch ernüchternder war die Tatsache, dass er noch nicht einmal genau wusste, welches Verbrechen er überhaupt begangen haben sollte. Er wusste nur, dass man ihm sexuellen Missbrauch von Kindern vorwarf, dass er angeblich Sex mit einem kleinen Mädchen gehabt hatte - doch mit wem und wo und wann, das wusste er nicht. Die Polizei ging nicht weiter darauf ein. Hunt würde warten müssen, bis sein Anwalt eintraf, was - hoffentlich - am Morgen geschehen würde.
Irgendwie gelang es Hunt, die Nacht unbeschadet zu überstehen. Alle anderen ignorierten ihn und ließen ihn in Ruhe, und während er sich unter seinen Zellengenossen umschaute, fragte er sich, ob Verbrecher sich untereinander erkennten, ob sie eine Art sechsten Sinn hatten, der sie spüren ließ, wenn sich ein Unschuldiger unter ihnen befand und wer dieser Unschuldige war.
Wem wollte er hier eigentlich etwas vormachen? Die anderen Knackis hatten ihn bloß noch nicht zu Klump geschlagen, weil sie nicht wussten, weswegen er hier war. So einfach war das.
Am nächsten Morgen kurz nach zehn kam tatsächlich der Anwalt. Sein Name war Raymond Jennings, und er sah aus wie eine etwas weniger wichtigtuerische Ausgabe von Francis Lee Bailey. Hunt wusste nicht, wie Beth den Mann gefunden oder warum sie gerade ihn ausgewählt hatte. Hatte sie Erkundigungen eingezogen, oder war Jennings ihr von jemandem empfohlen worden? Oder hatte sie einfach nur die erstbeste Nummer in den Gelben Seiten angerufen? Doch Jennings machte einen guten Eindruck, er wirkte kompetent und vertrauenswürdig, und Hunt zog es vor, einfach davon auszugehen, dass dieser Anwalt zu den besten gehörte, die in ganz Tucson aufzutreiben waren - und dass er mit Hilfe dieses Anwalts keine Schwierigkeiten haben würde, aus diesem Schlamassel herauszukommen.
Hunts gesamte Erfahrung mit dem Strafrechtssystem beschränkte sich auf Fernseh- und Kinofilme, und er hatte damit gerechnet, seinem Anwalt entweder in einem großen, cafeteriaartigen Raum zu begegnen, in dem zahlreiche Insassen mit ihren Angehörigen und ihrem Rechtsbeistand sprachen, oder in einer engen, geschlossenen Kabine, sodass sie nur über einen Telefonhörer miteinander würden reden und einander nur durch Panzerglas würden anschauen können. Die Wirklichkeit jedoch sah so aus, dass sie sich in einem Raum trafen, der nicht viel anders wirkte als ein Konferenzzimmer: In der Mitte des Raumes standen ein schwerer Tisch und vier Sessel; vor einer Tafel, die fast die gesamte Breite der Wand ausfüllte, waren ein Fernseher und ein Videorekorder aufgestellt. Jennings saß bereits am Kopfende des Tisches, als eine Wache Hunt hereinführte und ihm die Handschellen löste; vor dem Anwalt lag ein ganzer Stapel Papiere. Er erhob sich, als Hunt eintrat, und streckte ihm die Hand entgegen. »Mein Name ist Raymond Jennings. Ich bin Ihr Rechtsanwalt.«
»Gott sei Dank.« Hunt schüttelte die Hand, die ihm entgegengestreckt wurde; dann ließ er sich in einen Sessel dem Anwalt gegenüber fallen. »Was wirft man mir eigentlich vor?«, fragte er dann. »Die haben mir
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